»AUF TOD FOLGT GRAM«
Kurzbeschreibung
- Hör ihnen nicht zu.
- Gib ihnen keine Antwort.
- Stell ihnen keine Fragen.
Der Schmerz ist bedeutungslos. Denn nach dem Tod erwartet dich Gram …
Gram hatte schon viele Hinrichtungen gesehen. Sie schreckten ihn nicht. Im Gegenteil, sie boten ihm wertvolle Einblicke, wie der menschliche Körper auf das Sterben reagierte. Und mit ihm die Seele.
Diesmal war es nicht anders. Jedenfalls sagte er sich das.
Er betrachtete den Körper auf dem Scheiterhaufen distanziert. Die Frau hing regungslos in ihren Fesseln, ihr Gesicht wirkte wächsern. Sie hatte den Kampf aufgegeben. Nur wenig unterschied sie von einer lebenden Toten. Wie fühlte sie sich, nur ein paar Minuten vom Tod entfernt und mit der absoluten Gewissheit, ihm nicht entrinnen zu können? Fraß die Angst sie innerlich auf oder schenkte sie ihr eine befreiende Ruhe? Noch hatten die Gehilfen des Inquisitors das Stroh nicht in Brand gesetzt. Die Schaulustigen hatten sich bereits auf dem Marktplatz vor dem Rathaus versammelt.
Gram spürte eine Anspannung in sich, von der er nicht genau sagen konnte, ob es Aufregung oder Nervosität war. Für einen Reaper, der sich wie er noch in der Ausbildung befand, stellte jeder Tod eine neue Erfahrung bereit. Außerdem trainierte er seine Kräfte. Denn jede Seele war einzigartig und erlebte das Hinscheiden ihres menschlichen Körpers auf andere Weise. Siechte letzterer in langer Krankheit dahin, löste sich die Seele oft schon vor dem Zeitpunkt des Todes langsam ab. Solange sie im Leben keinen Pakt mit der Anderswelt geschlossen hatte, war sie für einen Reaper tabu. Sie zog dann friedlich weiter in das »Drüben«, wenn es so weit war.
Im Fall eines plötzlichen oder gewaltsamen Todes, sei es durch Unfall oder Mord, reagierten die meisten Seelen verwirrt. Sie verstanden nicht gleich, dass ihre physische Hülle nicht mehr existent war und griffen nach jedem Strohhalm, der ihnen Halt und Hoffnung bot. Mit ihnen hatte ein Reaper leichtes Spiel. Wenn sich die Seele ihm freiwillig anbot, durfte er sie einsammeln und mit ihr tun, wie es ihm im Rahmen der Gesetze der Anderswelt beliebte.
Eine Seele jedoch, die durch Hinrichtung von ihrer sterblichen Hülle befreit wurde, war unberechenbar. Oft war sie von Wut erfüllt, sei es, weil sie selbst ein schreckliches Verbrechen begangen hatte und dafür bestraft wurde, oder weil ihr tiefes Unrecht widerfuhr und sie der Obrigkeit der Menschenwelt hilflos ausgeliefert war. Die anfängliche Verwirrung nach dem Übertritt konnte daher schnell in Aggression umschlagen. Eine solche Seele durfte ein Reaper niemals unterschätzen, denn ihre ungezügelten Kräfte konnten immensen Schaden anrichten, nicht nur für den Reaper.
Hier zählten vor allem Schnelligkeit und Entschlossenheit.
Gram hatte sich ein ehrgeiziges Ziel gesetzt: der mächtigste Reaper zu werden, den es je gegeben hatte. Aber er wusste auch, dass er noch viel zu lernen hatte, bis es so weit war. Zeit spielte in seiner Welt nur eine geringe Rolle, doch die Ausbildung zu einem vollwertigen Reaper konnte länger dauern als ein Menschenleben. Als Lehrling war er zudem Regeln unterworfen, die, wenn er sie brach, ein rasches Ende seiner glorreichen Karriere bedeuten konnten. Denn obwohl er schon viele Tode gesehen und manche Hinrichtung beobachtet hatte, war es doch die erste, bei der er eine Seele stehlen sollte. Eine ganz besondere Seele noch dazu.
Gram hüllte sich enger in seinen Umhang. Die Spannung in seinem Innern nahm zu. Er stand ebenso still wie die Frau, die man auf den Scheiterhaufen gebunden hatte. In ihre Gesichtszüge war etwas Leben und Farbe zurückgekehrt, so als würde sie erst jetzt begreifen, was gleich mit ihr geschehen würde. Aber noch immer zeigte sie keine Angst. Sie weinte nicht. Auch flehte sie nicht mehr um ihr Leben wie in den Tagen zuvor im Kerker. Sie wusste, dass es vergeblich gewesen wäre. Ihr Blick ruhte auf einem acht- oder neunjährigen Mädchen in der ersten Reihe, dem die Tränen über die Wangen liefen. Es war ihre Tochter.
Gram stand dicht neben der Kleinen. Die auf dem Platz versammelten Menschen hielten sich von ihr fern, als hätten sie Angst, durch die bloße Nähe zu ihr befleckt zu werden. Wahrscheinlich glaubten sie, dass das Schandmal der Hexerei dadurch auf sie übertragen werden könnte. Es waren das die gleichen Leute, denen die Mutter des Mädchens ihr Schicksal zu verdanken hatte.
Gram hätte leicht eingreifen können, wenn er gewollt hätte. Dazu musste er die Lebenden nur lange genug berühren. Mit seinem Chakryn konnte er ihre Seelen zu sich ins Zwielicht ziehen. Aber Onyx hatte ihm verboten, einen Menschen durch seine Kräfte zu töten. Es war ein Gesetz der Reaper. Es galt nicht für alle und nicht für alle gleich. Aber es galt für Gram. Er durfte es nicht brechen. Doch heute würde er es vielleicht beugen müssen. Mit allen Konsequenzen.
Er trat ein paar Schritte näher an den Scheiterhaufen heran. Zwei Priester, Gehilfen des Inquisitors, hatten das Stroh mit Öl übergossen und hielten Fackeln in ihren Händen, bereit, auf ein Zeichen ihres Herrn den Scheiterhaufen in Brand zu setzen. Die Tochter der Todgeweihten hatte sich inzwischen auf den Boden gekauert, da ihre Beine sie nicht mehr trugen. Sie wurde von einem lautlosen Schluchzen geschüttelt. Weder sie noch die Schaulustigen konnten Gram sehen. Solange er sich im Zwielicht aufhielt, der Grenzregion zwischen der physischen und der Anderswelt, blieb er für sterbliche Augen unsichtbar. Hier herrschte eine stete, sanfte Dämmerung, ungetrübt vom grellen Licht der dichten Materie. Im Zwielicht war er für die Menschen nur ein Schatten in den Schatten. Die Bewegung im Augenwinkel. Oder der Schrecken, der abfiel, wenn man aus einem Alptraum erwachte.
Der Blick der Angeklagten wanderte in seine Richtung und blieb kurz auf ihm hängen. Vielleicht spürte sie seine Anwesenheit. Seelen, deren physischer Tod bevorstand, nahmen häufig Dinge wahr, die ihren sterblichen Augen für gewöhnlich verborgen blieben. Gram erwiderte ihren Blick, aber nur, um sich ein weiteres Mal der Farbe ihrer Seele zu vergewissern. Sie war wunderschön. Tief in sich spürte er den Sog, der von ihr ausging. So viel Energie, so viel Leben. Er wollte sie besitzen und diese Kraft in sich aufsaugen, um sie mit seiner eigenen zu vereinen. Um zu wachsen. Ein Reaper mit genügend Seelenenergie brauchte nichts und niemanden fürchten. Keine rachsüchtigen Geister, keine anderen Reaper, auch nicht die Schattenritter. Selbst die Feenkrieger der Anderswelt scheuten einen Kampf mit ihm. Aber diese Seele war nicht für ihn bestimmt. Noch nicht. Sie erinnerte ihn jedoch daran, warum er das alles auf sich nahm. Denn eines Tages, wenn er genug Seelen geholt hatte, würde er die Schattenritter besiegen.
Der Abend dämmerte herauf. Gram musste sich beeilen, denn die Dämmerung war die Zeit, in der das Zwielicht durchlässig wurde und feinfühligere Sterbliche ihn dann wahrnehmen konnten. Die Menge hatte sich auf dem Marktplatz versammelt, um dem Schauspiel beizuwohnen, nachdem man die Verurteilte zuvor in einer auffälligen Prozession vom Gefängnis hinunter zum Marktplatz geführt hatte.
»Ehrwürdige Gemeinde«, begann der Inquisitor seine flammende Rede, von denen er bereits zahlreiche auf dem Weg zum Marktplatz gehalten hatte. »Heute stehen wir an einem Scheideweg zwischen Gut und Böse, zwischen Reinheit und Verdorbenheit. Als Diener unseres Herrn Jesus Christus und seines göttlichen Lichts haben wir uns hier versammelt, um das Übel aus unserer Mitte zu verbannen.«
Die Menge murmelte zustimmend. Aber nur wenige wagten es, dem Inquisitor oder der Angeschuldigten in die Augen zu blicken. Anders als die Anklage behauptete, stand letztere nicht mit dem Teufel im Bunde, und das wussten die Anwesenden sehr wohl. Was sie nicht daran gehindert hatte, die Frau zu verurteilen. Fast zwei Jahrzehnte lang hatte sie dem Dorf als Heilerin gedient. Ihr Name war Marie. Aber die Namen der Lebenden waren für Gram bedeutungslos. Er hatte ihre Seelenfarbe gespürt, schon bevor man sie in den Kerkern folterte, um ein Geständnis von ihr zu erpressen.
Sie strahlte in einem klaren Blau, das nur sehr selten zu finden war, ein Blau wie der wolkenlose Himmel jenseits des Zwielichts. Die meisten Seelen besaßen mehrere Farben, die in Schichten übereinanderlagen, wie die Schalen einer Zwiebel, und sich manchmal ineinander vermischten. »Aura« nannten es die Menschen. Doch im Kern, in ihrer Essenz, glänzten Seelen in einem strahlenden Weiß. Manchmal konnte die Essenz jedoch von einer einzelnen Farbe umhüllt und geschützt sein, was auf eine besondere Gabe hindeutete. Dies war die wahre Farbe einer Seele.
Onyx brauchte eine blaue Seele. Und Gram würde sie ihr bringen.
»Dieses Individuum wurde des schändlichen Verbrechens der Hexerei für schuldig befunden. Ihre Seele ist befleckt von der Dunkelheit, ihr Geist durchtränkt von der Macht des Bösen. Wir haben keine Wahl, als unsere Gemeinschaft von diesem Geschwür zu reinigen, um das Licht der Gerechtigkeit und der göttlichen Ordnung wiederherzustellen.«
Gram verfluchte den Inquisitor. Warum dauerte das so lange? Das Licht schwand immer mehr. Ein unnatürlicher Windhauch strich durch das Zwielicht, ließ die Schatten um ihn herum tanzen wie ruhelose Geister. Die Luft schien dicker zu werden, geladen mit einer knisternden Energie. Vielleicht war es aber nur seine eigene innere Anspannung. Er zwang sich zur Ruhe, fixierte die Heilerin. Egal was kam, er durfte seine Aufgabe nicht gefährden. Er wusste nicht, wie die Seele der Heilerin auf ihn reagieren würde. Wenn sie sich widersetzte und er sie nicht festhalten konnte, dann konnte sie zu einem Echo verblassen oder, schlimmer, zur Beute eines anderen Schattenwesens werden. Möglicherweise würde ihr sogar der Übergang in jenes Reich, das Drüben, gelingen, das kein Wesen des Zwielichts je betreten konnte. Schon gar kein Reaper.
Onyx hatte hohe Erwartungen an diese Seele. Er durfte sie nicht enttäuschen. Sie war seine Meisterin, er nur der Lehrling. Sie würde entscheiden, ob und wann er seine erste eigene Seele in sich aufnehmen durfte.
»Seht auf diese Kreatur, die sich dem Satan verschworen hat!« Der Inquisitor ließ seinen Blick über die anwesende Menge schweifen, während er mit gebieterisch ausgestreckter Hand auf die Verurteilte zeigte. »Ihre Taten sind so finster, dass sie die Erde selbst zu verschlingen drohen. Doch fürchtet euch nicht, denn wir sind die Hüter des Glaubens und die Wächter der Reinheit. Im Namen der Dreifaltigkeit, des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, haben wir uns vereint, um die Kräfte der Finsternis zu bannen.«
Die Frau des Bürgermeisters hatte eine Fehlgeburt erlitten und der Heilerin die Schuld dafür gegeben. Diese solle das Kind verflucht haben, hieß es in der Anklage. In Wahrheit hatte die Frau des Bürgermeisters einige Wochen zuvor die Heilerin um einen Trank gebeten, der sie von dem Kind befreien sollte. Der Trank hatte gewirkt, aber viel zu spät und nicht so unbemerkt, wie die treue Gattin gehofft hatte.
Vielleicht hätte sie die Sache auf sich beruhen lassen und um das tote Kind getrauert, wären zu diesem Zeitpunkt nicht Onyx und Gram in die Stadt gekommen. Nachdem Gram die Seelenfarbe der Heilerin erkannt hatte, war ihr Schicksal besiegelt gewesen. Nur ihrer Farbe wegen hatten die beiden Reaper überhaupt so lang an einem Ort verweilt. Da weder Onyx noch er die Seele einfach entreißen durften, hatte Onyx ihre Gabe der Einflüsterung genutzt, um auf das gewünschte Ergebnis hinzuwirken. Den Tod.
In Träumen und gedankenverlorenen Momenten hatte sie zur Bürgermeistergattin gesprochen. Und zu anderen Menschen, die von Sorgen, Not oder Trauer geplagt wurden und deswegen besonders empfänglich waren für Zweifel. Onyx war zu ihrem dunklen Schatten geworden. Kaum jemand konnte ihrer Stimme widerstehen, selbst wenn niemand sie bewusst wahrnahm. Onyx’ Worte wurden zu ihren Gedanken, dann zu ihren eigenen Worten und schließlich zu ihren Taten. Die Stimme eines Reapers konnte ein machtvolles Instrument sein, das die Lebenden kontrollierte, nicht nur die Toten. Plötzlich flüsterten immer mehr Dorfbewohner hinter vorgehaltener Hand, dass, wenn eine Ziege starb oder eine Kuh keine Milch mehr gab, das sündige Treiben der Heilerin dafür verantwortlich sei. Sie hätte das Dorf verflucht. Nachdem ein weiteres Kind an einem Fieber verstarb, bestellte der Bürgermeister schließlich einen Inquisitor aus der Erzdiözese ein, um den möglichen Fall von Hexerei untersuchen zu lassen. Das Kind war von einem räudigen Hund gebissen worden. Der Biss hatte sich entzündet. Statt die Heilerin um Hilfe zu bitten, hatten die Eltern sie beschuldigt, einen Dämon in den Hund gesperrt zu haben.
Der Dämon hieß Onyx. Sie hatte auf das kranke Tier eingeflüstert, so wie sie auf die Eltern eingeflüstert hatte. Dann hatte sie die Seele des Kindes geholt. Es war nur eine weiße Seele gewesen, ohne besondere Farbe, doch sie erfüllte ihren Zweck. In diesem Moment war das Urteil über die Heilerin gefällt worden, wenn auch noch nicht auf Papier oder gar vor Gott.
Gram hatte den Gebeten der Heilerin nach der Urteilsverkündung im Kerker gelauscht. Sie hatte geweint wegen der Ungerechtigkeit, die ihr Leben zerstört hatte und ihre kleine Tochter allein zurückließ. Er hatte insgeheim darauf gehofft, dass sie während der Folter versterben würde, als man das Geständnis der Hexerei von ihr erpressen wollte. Dann hätte er ihre Seele im Moment des Todes entziehen können, ohne sich selbst einer Gefahr auszusetzen. Denn je länger er brauchte, um eine Seele zu sich ins Zwielicht zu ziehen – oder sie gar vor Eintritt des Todes entzog –, desto größer war die Gefahr, dass die Schattenritter auf ihn aufmerksam wurden.
Gram fürchtete die Schattenritter fast so sehr, wie die Menschen den Tod fürchteten.
Als der Inquisitor immer noch nicht enden wollte, verlor Gram die Geduld und kletterte zu Marie auf den Scheiterhaufen. Falls jemand das Heben und Senken des Strohs beobachtete, schrieb er es dem Wind zu. Oder den bösen Dämonen, die die angebliche Hexe umtanzten. Ein paar Menschen bekreuzigten sich und blickten rasch in eine andere Richtung. Der Inquisitor stockte kurz, räusperte sich, und setzte seine Rede noch eine Spur lauter fort.
Die Verurteilte spürte ihn. Sie wandte den Blick von ihrer weinenden Tochter ab und richtete ihn auf Gram. Noch konnte sie ihn nicht sehen, aber ihre Seele reagierte instinktiv auf seine Anwesenheit. Er streckte ihr die Hand mit dem Chakryn entgegen, dem Energiepunkt, den alle Reaper besaßen. Darin brannte in einem lichten Blau seine Seelenflamme. Er hatte lange üben müssen, um sie zu erzeugen. Die Seelenflamme seines Chakryn besaß Macht. Sie konnte Todgeweihte spüren, einem Körper die Seele entziehen, sich aber auch mit ihr verbinden und sie beruhigen. Unter anderen Umständen würde er warten, bis die Seele sich zum Zeitpunkt des Todes von allein aus ihrem Körper löste, aber auch Gram war nicht gefeit gegen die Flammen eines physischen Feuers. Er würde ihnen zwar länger widerstehen können, aber wenn sie ihn erst einmal erfasst hatten, dann konnten sie ihn auch im Zwielicht verbrennen. Darum würde Gram gegen das Gebot der Reaper verstoßen müssen und die Seele vorher holen. Doch da die Frau in jedem Fall sterben würde, machte das keinen großen Unterschied. Jedenfalls hatte Onyx ihm das versichert.
Gram sah Menschen nicht zum ersten Mal brennen. Es war kein angenehmer Tod, und er hatte nicht vor, dieses Schicksal zu teilen.
Die Frau blinzelte und versuchte zu sprechen, aber die Stimme versagte ihr. In ihren Augen stand eine stumme Bitte. »Lass mich nicht leiden.« Gram hatte diese Worte oft gehört, wenn er einem sterbenden Menschen die Seele entzog. Sie kümmerten ihn nicht. Einige Seelen versuchten zu feilschen. Manche um ihr Leben, manche um ihren Tod.
Onyx hatte ihm drei Regeln eingebläut, an die er sich halten musste, wenn er eine Seele entzog:
- Hör ihnen nicht zu.
- Gib ihnen keine Antwort.
- Stell ihnen keine Fragen.
Laut Onyx hatten die Regeln einen einfachen Grund: Ein Reaper durfte niemals Schwäche zeigen. Schwäche machte angreifbar. Nur sein Wille zählte. Das Flehen der Seelen war bedeutungslos. Als Reaper musste er über menschliche Gefühle und Erfahrungen erhaben sein. Mitgefühl gehörte in die Welt der Lebenden, nicht in die Welt der Toten. Ein Reaper war nicht grausam. Er erledigte die Aufgabe, für die er bestimmt war. Ob der Sterbende sich im Leben etwas hatte zu Schulden kommen lassen oder nicht, spielte für ihn keine Rolle. Im Zwielicht galten die Gesetze der Menschen nichts und ihre Wertvorstellungen hatten dort keinen Platz.
Doch in diesem Fall musste Gram den richtigen Zeitpunkt abwarten. Holte er die Seele zu früh, würde sie sich wehren und das wiederum konnte die Schattenritter auf den Plan rufen. Holte er sie zu spät, konnte er selbst ein Opfer der Flammen werden, während das Licht des Jenseits die Seele in das Drüben zog und sie erlöste.
»Sei ruhig«, flüsterte er und streichelte der Heilerin sanft mit seiner Seelenflamme über den Arm. Es gab keine Regel, die besagte, dass er nicht zu ihnen sprechen durfte. Manchmal war das notwendig. Seine Stimme wie auch das Chakryn hatten eine beruhigende Wirkung auf die Seelen. Ob es auch auf einen noch lebenden Menschen wirkte oder ob die Frau es überhaupt bemerkte, wusste er nicht.
»Ihr werdet Zeuge ihrer Buße und ihrer Bestrafung, wenn wir die Flamme der Reinigung entfachen.« Der Inquisitor hob die Hand und seine beiden Gehilfen strafften sich. »Möge das Feuer, das diesen Körper verzehrt, gleichzeitig das Böse aus dieser Gemeinde vertreiben und ihre Seelen reinigen. Möge die Asche, die von diesem Scheiterhaufen aufsteigt, unsere Gemeinschaft von der Geißel der Hexerei befreien.«
Ein paar in der Menge johlten und applaudierten. Die meisten blickten beschämt zu Boden. Die Tochter hielt sich die Ohren zu und kauerte sich noch tiefer über den Boden. Niemand kam, um sie zu trösten oder ihr in diesen schrecklichen Minuten beizustehen.
»Unser Handeln geschieht im Namen Gottes. Möge die göttliche Gerechtigkeit über uns wachen und uns leiten, während wir das Böse hinwegfegen. Lasst dieses Urteil ein Beispiel sein für alle, die noch in den Schatten verweilen: Die Gerechtigkeit wird euch alle erreichen.«
Gram war der Schatten. Und er hätte dem Inquisitor gern seine eigene Gerechtigkeit schmecken lassen, aber er musste sich konzentrieren. Er durfte sich keinen Fehler erlauben.
Die Frau starrte ihn an. Ihre Augen füllten sich mit den Tränen, die sie so lange unterdrückt hatte. Obwohl er sie nur kurz berührt hatte, konnte sie ihn jetzt deutlich sehen, so als ob er außerhalb des Zwielichts vor ihr stehen würde. Seine Seelenflamme hatte die Schwingung ihrer Seele aufgenommen. Für die Seele würde es nun kein Entkommen mehr geben, selbst wenn sie versuchen sollte, vor ihm zu fliehen. Nur die Schattenritter konnten sie noch trennen.
»Bist du ein Engel?«, flüsterte die Heilerin. Ihre Stimme war rau vom Schreien im Kerker. Am Hals oberhalb ihres weißen Büßergewandes waren Blutergüsse zu sehen, aber die meisten Spuren der Folter wurden von dem Stoff verdeckt.
Gram hob überrascht die Augenbrauen. Engel? Noch nie hatte ihn jemand so genannt. Die Menschen, die das Pech hatten, einen Reaper zu erblicken, sahen ihn als ein Abbild des Todes – mit blankem Schädel, bleichen Knochen und feuerlodernden Augenhöhlen. Er war ein Spiegel des Schicksals der Sterblichen und das Versprechen des unausweichlichen Todes. Menschen fürchteten die Dunkelheit, die ihn umgab. Es war jedoch nicht das wahre Antlitz eines Reapers. Reaper besaßen zwei Gesichter – das des Todes und das eines Menschen. Das Antlitz des Todes war bei den meisten Reapern nur eine Maske, die erst durch die Furcht der Menschen Gestalt annahm, sich jedoch auflöste, sobald die Seele ins Zwielicht übertrat. Gram hatte stets angenommen, dass er den Menschen, die vor ihrem Tod einen Blick auf ihn erhaschten, als Todesbote erschien, statt in seiner menschlichen Form. Zudem gab es Engel nur in der Vorstellung der Gläubigen, die von der Kirche indoktriniert worden waren. Jedenfalls hatte Gram noch nie einen gesehen. Auch nicht im Licht, das manchmal ins Zwielicht leuchtete, wenn sich das Tor in das Drüben für die Seele öffnete. Aber vielleicht tauchte ihn der Schein seiner Seelenflamme in eine überirdische Aura.
»Sei ruhig«, sagte er wieder, ohne sie dabei anzusehen.
Was brauchte der Inquisitor noch immer so lange? Der Gemeindepriester hatte eine Schüssel mit Weihrauch entzündet, als ob die zu entfachenden Flammen nicht genug Rauch verbreiten würden.
»Aber du siehst so jung aus«, sprach Marie mit kratziger Stimme. »Nicht älter als meine Tochter. Dein Haar ist heller als Mondlicht. Was bist du, wenn kein Engel?«
Gram presste die Lippen aufeinander und blickte auf das am Boden kauernde Mädchen, das jetzt eine Hand nach ihrer Mutter ausgestreckt hatte und laut weinte. Ihr Gesicht war vor Kummer verzogen.
Kummer und Gram.
Kummer war der Name seiner Schwester gewesen. Warum musste er ausgerechnet jetzt an sie denken? »Klein-Mensch«, nannte Onyx die Kinder. Sie waren nicht anders als die Groß-Menschen, da Seelen kein Alter kannten. Gram besaß keine Seele. Er war ein Reaper. Oder, wie Onyx es auszudrücken pflegte, er würde ein Reaper sein, wenn er gewachsen war. Im Zwielicht verging die Zeit anders. Das Alter war irrelevant. Die Größe nicht. Man wurde stärker, wenn man größer wurde, egal, ob Mensch oder Reaper.
Gram schüttelte sich und ballte die Hand zur Faust. Seine Seelenflamme flackerte. Hör ihnen nicht zu. Regel Nummer eins. Er hatte sie bereits gebrochen. Was würde mit ihm passieren, wenn er versagte?
»Mama«, rief das Mädchen.
Die Heilerin schluchzte. »Bitte beschütze sie. Lass nicht zu, dass sie ihr etwas tun.«
»Ich bin nicht ihretwegen hier«, sagte er knapp. Regel Nummer zwei. Gib ihnen keine Antwort. Onyx würde sehr, sehr böse sein. Aber er musste versuchen, die Seele ruhig zu halten, sonst würde sie sich gegen ihn wehren.
Der Inquisitor hob seine Stimme. »Möge Gott uns leiten und unsere Herzen erleuchten. In seinem Namen und im Namen der Reinheit verurteilen wir diese Seelen zum Feuer, auf dass die Gerechtigkeit siegreich sein möge! Amen!«
»Amen!«, wiederholten zahlreiche Stimmen.
Die Gehilfen des Inquisitors hielten die Fackeln an das Stroh. Augenblicklich züngelten Flammen auf. Gram spannte sich an. Nur noch wenige Augenblicke …
Die Frau wand sich in ihre Fesseln, als sie sah, wie ihre Tochter die Arme nach ihr ausstreckte. »Sieh nicht hin, Liebes!«, rief sie mit versagender Stimme. »Ich werde immer bei dir sein.«
»Schweig, Hexe!«, donnerte der Inquisitor. Gleichzeitig trat er mehrere Schritte zurück, denn das Feuer loderte jetzt hoch auf und behinderte die freie Sicht auf das Schauspiel.
Flammen leckten an den nackten Füßen der Frau. Sie war noch immer bei vollem Bewusstsein, auch wenn der Rauch ihre Augen tränen ließ und ihre Stimme erstickte. Der Schmerz ließ sie aufstöhnen.
»Bitte!« Sie sah Gram flehend an.
Das Zwielicht bot Gram nur geringen Schutz vor dem Element. Wenn er noch länger zögerte, würden die Flammen auch ihn verzehren. Er blickte auf seine Seelenflamme. Sie leuchtete hellblau in starkem Kontrast zum glühenden Rot des Feuers. Die Heilerin schrie qualvoll auf. Die Flammen versengten ihre Beine. Wenn der Schmerz ihr nicht bald das Bewusstsein raubte, dann der Rauch in ihren Lungen. Aber so lange konnte er nicht mehr warten. Sein Chakryn lechzte nach der Energie der Seele. Selbst wenn er gewollt hätte, konnte er den Drang nicht länger zurückhalten.
Er griff die Hand der Frau. Seine Seelenflamme umhüllte sie beide mit einem kühlenden Feuer und band ihre Seele unweigerlich an ihn. Für einen Herzschlag sah er das Zwielicht, wie er es noch nie zuvor erblickt hatte: zerklüftet von glühenden Rissen, durch die ein gleißendes Licht schimmerte. Gram stolperte zurück. Mit einem Ruck zog er die Seele aus ihrem Körper zu sich ins Zwielicht und fort von dem Scheiterhaufen. Er spürte ihren Widerstand als einen kurzen, stechenden Schmerz in seinem Chakryn, dann war es vorbei.
Die Menschen waren zurückgewichen. Der beißende Rauch nahm ihnen die Luft zum Atmen. Der Gestank von verbranntem Fleisch und Fett mischte sich unter den Rauch und ließ viele von ihnen würgen. Hinter den Flammen war kaum noch etwas zu erkennen. Gram jedoch konnte im Zwielicht durch die dunkel verzerrten Flammen hindurch deutlich die Umrisse des lichterloh brennenden Körpers sehen, der schlaff in seinen Fesseln hing. Die Frau war tot. Aber es war Grams Seelenflamme gewesen, die ihr Leben beendet hatte, nicht das sengende Feuer.
War das eine Gnade gewesen oder eine Grausamkeit? Zum ersten Mal stellte er sich diese Frage.
Ihre Seele stand neben ihm. Anders als die meisten Seelen, die er bisher getroffen hatte, erschien sie ihm nicht als weißlicher, menschenförmiger Schemen, sondern sah aus wie zu ihren Lebzeiten. Eine energievolle Frau mit langen braunen Haaren und ohne die Spuren der Folter und des Leidens an ihrem Körper. Ein strahlendes hellblaues Leuchten umgab ihre Konturen. Die Farbe ihrer Seele.
Grams Chakryn kribbelte. Ohne die stoffliche Hülle war ihre Energie noch um ein Vielfaches stärker. Er kämpfte gegen den Drang, sie in sich aufzusaugen. Wäre er größer gewesen, dann hätte er ihm nachgegeben. Aber noch war er nur der Bote, nicht der Vollstrecker.
Der Blick der verlorenen Seele war auf das Mädchen gerichtet. Die Kleine war vor dem Feuer zurückgewichen, aber sie konnte den Blick nicht abwenden. Sie kniete am Boden und rieb sich die tränenden Augen. Die Seele der Frau wollte zu ihr eilen, aber Grams Chakryn hielt sie fest.
»So hilf ihr doch. Warum lässt du sie leiden?« Sie wandte sich zu ihm um und streckte flehend die Hände nach ihm aus.
Gram hatte noch nie eine Seele erlebt, die so gefasst auf ihren Tod reagierte. Hatte sie überhaupt begriffen, was geschehen war?
»Was sorgst du dich noch um die Lebenden?«, fragte er. »Hast du denn keine Angst um deine Seele?«
»Regel Nummer drei: Stell ihnen keine Fragen.« Es war Onyx, die ihm antwortete. Sie tauchte urplötzlich aus den Schatten hinter ihnen auf und bohrte ihre Faust durch den feinstofflichen Körper der Heilerin, noch bevor diese ihrer Anwesenheit überhaupt gewahr wurde. Ihre Hand trat vorn an der Brust wieder aus. Darin hielt sie eine Perle, deren blauer Schimmer durch die Finger hindurch drang. Die Seele, oder das, was einmal der Mensch mit der Gabe einer Heilerin und dem Namen Marie gewesen war, stockte. Sie drehte verwirrt den Kopf erst in die eine, dann in die andere Richtung. Ihr Blick suchte Gram, aber die Reste ihres feinstofflichen Körpers lösten sich bereits auf. Feinen Nebelschwaden gleich zerteilte er sich in der Luft und vermischte sich mit dem Rauch des Scheiterhaufens.
Zurück blieb nur die Perle in Onyx’ Hand. Die Essenz einer menschlichen Seele. Gram starrte sie an. Er erlebte nicht zum ersten Mal, wie eine Seele ausgelöscht wurde. Schließlich war es seine Aufgabe, sie darauf vorzubereiten. Aber diesmal war etwas anders. Auch wenn er nicht verstand, was es war.
Onyx rollte die Perle in ihrer Hand. »Welch reine Energie! Spürst du sie, Gram? Solange du sie nicht in dir spürst … spürst, wie sie dich lebendig macht und in dir pulsiert, wirst du nie ein Reaper sein.«
Natürlich spürte er sie. Und bisher hatte er dem Drang widerstanden, sie für sich zu beanspruchen. Um Onyx’ willen.
Sie sah ihn an. Mit ihren erschreckenden, leeren Augenhöhlen. Gram war noch nicht groß genug, um eine Seele auszulöschen, hatte Onyx ihm immer wieder gesagt. Aber er besaß etwas, das Onyx vor langer Zeit verloren hatte. Augen, mit denen er die Farbe der Seelen sehen konnte.
»Bist du denn überhaupt noch ein Reaper?«, fragte er unvermittelt und erschrak gleichzeitig über seine Unverfrorenheit. »Stell ihnen keine Fragen« bezog sich nicht nur auf die Seelen, sondern auch andere Reaper. Onyx eingeschlossen.
Aber anstatt wütend zu werden, verzog sie ihre Lippen zu einem finsteren Lächeln. Sie hatte nicht immer so verhärmt ausgesehen. Ihr volles Haar hatte einst so schwarz geglänzt wie Rabenschwingen. Gram hatte es immer bewundert. Nun sah es aus wie die verblichenen Knochen der Sterblichen.
»Ich war nie ein Reaper, Gram«, antwortete sie und strich ihm beinahe sanft über das Haar. »Das ist deine Bestimmung, nicht meine. Ein Reaper befolgt Befehle und Regeln. Er dient dem höheren Zweck. Das liegt in seiner Natur. Dafür wurdest du geschaffen.«
Onyx war kein Reaper? Gram war verwirrt. Sie war es doch, die ihn die Wege der Reaper lehrte. Die ihm all das beibrachte, was er wissen musste, um einer der stärksten und mächtigsten Reaper zu werden. Einer, der mutig gegen die Schattenritter kämpfte. Ein Reaper sorgte für Ordnung im Zwielicht. Unerlöste Seelen konnten eine Gefahr für die Lebenden und sogar für manche Schattenwesen darstellen. Und ihre Energie konnte missbraucht werden, um vernichtende Kriege zu führen, besonders von den Schattenrittern. Davor hatte Onyx ihn immer gewarnt. Darum sammelten Reaper Seelen ein, die nicht ins Drüben fanden: um sie selbst und andere vor sich zu schützen und die Schattenritter zu schwächen.
Das Zwielicht überlagerte die Welt der Menschen wie ein durchsichtiger Mantel. Beide Welten waren bis zu einem gewissen Grad identisch. Sie schwangen in einem ähnlichen Wellenmuster, wenn auch auf unterschiedlicher Frequenz. Das Zwielicht war lediglich durchlässiger als feste Materie, eine Schattenwelt, ein dunkles Abbild, aber dadurch nicht weniger real und angreifbar. Doch während sich die physische Welt in der Zeit stetig vorwärts bewegte, erinnerte sich Gram dunkel an eine Zeit vor dieser Zeit. Bevor sie begonnen hatten, das Zwielicht zu durchwandern auf der Suche nach Seelen aus reinem Blau. Bevor die Schattenritter begonnen hatten, sie zu jagen und die Seelen ins Chaos zu stürzen. Wie lange war das her? Ein Menschenleben? Oder ein Augenblick? Er wünschte, er könnte sich besser an seine Schwester erinnern. Auch Kummer war ein Opfer der Schattenritter geworden. Wäre es ihr ebenfalls bestimmt gewesen, ein Reaper zu werden? Oder hatte sie eine eigene Seele besessen?
Er starrte auf die schimmernde Perle in Onyx’ Hand. Die Essenz einer menschlichen Seele. Ob ein Teil der Heilerin überdauert hatte? Marie. Das war ein schöner Name. Ein klangvoller Name. Ein Name voller Hoffnung. Doch was hatte er ihr genutzt? Sie würde vergessen werden, so wie die meisten Seelen.
»Aber warum?« Es war das erste Mal, dass er diese Frage stellte. Zum einen, weil es ihm verboten war, Fragen zu stellen, zum anderen, weil er bisher nie darüber nachgedacht hatte. Wenn er einem höheren Zweck diente, wie Onyx behauptete, und Ordnung ins Zwielicht brachte, wozu brauchte ein Reaper – oder ein Nicht-Reaper wie Onyx – dann eine menschliche Seele? Warum spürte er diesen Drang, sie zu besitzen, anstatt ihnen zu helfen, in das Drüben zu finden?
»Ich sagte doch: Es liegt in deiner Natur.« Sie klang ungeduldig. »Du wirst es verstehen, sobald du deine erste Seele verzehrt hast. Erst dann wirst du ein echter Reaper sein. Dann gibt es keine Fragen mehr. Nur Hingabe. Und bis dahin halte dich an die Regeln. Sonst werden die Schattenritter dich auslöschen, wie sie deine Schwester ausgelöscht haben. Oder willst du das?«
Gram schüttelte den Kopf. Er wollte nur, dass im Zwielicht wieder Frieden herrschte. Doch erst musste er groß genug werden, um die Schattenritter besiegen zu können. Wenn er dafür Seelen brauchte, dann sollte es eben so sein. Aber wie lange mochte es dauern, bis er seine erste eigene Seele verzehren durfte?
Onyx nickte, zufrieden mit seiner Reaktion. »Schon bald ist es so weit«, sagte sie, als hätte sie seine Gedanken gelesen.
»Bald« konnte im Zwielicht alles bedeuten. Und es war keine Antwort auf seine Frage.
Onyx hob die Perle an ihre Lippen und küsste sie. Die Perle strahlte auf, verflüssigte sich zu einem schimmernden silbrig-blauen Nebel und drang durch ihren geöffneten Mund in ihren Körper ein. Onyx atmete die Seelenessenz tief ein. Die Essenz strahlte ein letztes Mal hell auf und ließ Onyx’ leeren Augenhöhlen aufglühen, sodass sie beinahe wieder lebendig aussahen. Dann verblasste der Schein.
Gram spürte der schwindenden Energie hinterher und dachte dabei an Marie. Wie sehr sie sich um ihre Tochter gesorgt hatte, selbst noch im Tod. Sein Blick irrte zu dem Mädchen, das noch immer vor dem Feuer kauerte, dem beißenden Rauch und Gestank zum Trotz. Inzwischen war es dunkel geworden und die Menschen hatten sich zurück in ihre Häuser begeben. Dann sah er wieder zu Onyx. Ein leichter Schimmer war in ihr Haar zurückgekehrt, aber es war noch immer bleich wie Knochen. Ihre Gestalt stand aufrechter, gestraffter. Ihre schwarzen Nägel waren ein Stück gewachsen und ihre Stimme hatte wieder den samtigen Ton zurückgewonnen, mit dem sie zu den Menschen in ihren Träumen sprach.
»Ich bin hungrig.« Onyx bewegte den Kopf. Ihr blinder Blick glitt über den Marktplatz und begann, die Menschen in ihren Häusern zu taxieren. Sie atmete tief ein. Wie ein Schattenwolf, der nach Beute witterte. »Sag, Gram, welche Farbe hat die Seele des Mädchens?«
Er zuckte zusammen. Nur eine Seele pro Stadt. Auch das war Onyx’ Regel. Wegen der Schattenritter. Als er nicht antwortete, packte sie ihn am Kinn und drehte seinen Kopf in ihre Richtung.
»Nun? Das Kind ist ihre Tochter. Sicherlich hat es die Gabe der Heilerin geerbt.«
Gram schüttelte den Kopf, obwohl der Griff um sein Kinn schmerzte. »Sie hat eine strahlende Aura. Aber ihre Essenz ist farblos wie die der meisten Menschen.«
Onyx ließ ihn los und seufzte. »So viele Menschen, so wenig brauchbare Seelen. Enttäuschend.« Sie strich ihren Mantel glatt, aus dessen Falten Staub und Knochenasche aufstiegen. »Lass uns weiterziehen. Wir haben nicht mehr viel Zeit.«
Zeit hatte bisher für Onyx keine Rolle gespielt, außer wenn ihnen die Schattenritter auf der Spur waren.
Gram sah über seine Schulter zurück. Maries Tochter blickte in seine Richtung, als würde sie seine Anwesenheit spüren. Ihre Seelenessenz leuchtete in einem wundervollen Blau, das durch das Zwielicht strahlte und selbst den Feuerschein des Scheiterhaufens blass wirken ließ. Ihr Blau war dunkler und wärmer als das von Maries Seele. Er hatte es von Anfang an gesehen, aber da die Heilerin bereits als Opfer ausgewählt worden war, hatte er die Seelenfarbe der Tochter nicht erwähnt.
Inzwischen war Gram sich nicht mehr sicher, ob das der einzige Grund gewesen war. Er fragte sich kurz, was die Tochter nun tun würde, so klein und ganz allein auf der Welt. Wie gern hätte er ihre Energie gekostet. Würde er ihr damit nicht viel Leid im Leben ersparen? Der Drang war da. Aber etwas in seinem Innern widerstrebte dem Gedanken. Vielleicht, wenn er groß war, würde er es verstehen. Ganz wie Onyx gesagt hatte.
Onyx war nicht wie Marie. Aber Onyx war auch eine Mutter. Seine Mutter. Sie kümmerte sich um ihn. Was, wenn die Schattenritter sie fanden und zum Tode verurteilten? Machte sie sich Gedanken darüber, was mit ihm geschehen würde, wenn er allein zurückblieb? Noch war Gram nicht groß genug, um sie beide zu beschützen.
Er drehte sich wieder um und folgte Onyx in die Tiefen des Zwielichts, aber das ungute Gefühl blieb. Als dumpfer Druck lastete es auf seiner Brust. Vielleicht hatte er zu viel Kraft verbraucht, als er Maries Seele aus ihrem Körper gezogen hatte. Bisher war ihm das immer leichtgefallen, selbst dieses Mal, als er nicht auf den physischen Tod gewartet hatte. Ein kurzer Schmerz, mehr nicht. Aber instinktiv spürte Gram, dass es etwas anderes war. Etwas, das nichts mit seiner Reaperkraft zu tun hatte. Etwas, das sonst nur Menschen fühlten. Er hatte sie darüber sprechen hören, es aber bisher nie verstanden. Sie nannten es Gewissen. Reaper besaßen kein Gewissen. Sie brauchten das nicht. Darum sprachen Reaper auch stets die Wahrheit, denn sie hatten nichts zu verbergen.
Gram hatte seine Mutter noch nie zuvor belogen. Bis jetzt. Und sie hatte es nicht einmal bemerkt.
Machte ihn das zu einem guten oder zu einem schlechten Reaper? Oder zu etwas ganz anderem?
ENDE
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