ZEITLÄUFER: DER VERBORGENE RAUM
Ein altes Familiengeheimnis, ein mysteriöser Geheimbund und die Jagd nach einem Menschheitstraum …
Jonas Loring ist unsterblich. Eine Tatsache, die er seit Jahrhunderten erfolgreich vor der Welt verbirgt. Doch als ihn ein alter Feind aufspürt, ist es mit seinem zurückgezogenen Leben vorbei. Denn Jonas kennt das Geheimnis der Kammer des Wissens. Ein Wissen, das nicht nur für ihn und seine Verbündeten eine Gefahr darstellt, sondern die Geschicke der Menschheit verändern kann. Seine Widersacher schrecken vor nichts zurück, um diese Macht in ihre Hände zu bekommen.
Der Schlüssel dazu liegt jedoch in den Händen der jungen Lia Strindberg, Enkelin eines verstorbenen Freundes von Jonas. Von ihrem brisanten Erbe ahnt sie nichts, bis sie ins Visier seiner Gegner gerät. Obwohl er Lia in Lebensgefahr bringt, lässt sich Jonas auf ein gefährliches Katz-und-Maus-Spiel mit ihnen ein – eine riskante Entscheidung, die ihn mit seiner dunklen Vergangenheit und Lia mit ihrer wahren Herkunft konfrontiert.
Damit beginnt eine Jagd, die von London über Heidelberg bis hin zu den Pyramiden von Gizeh führt und selbst die Grenzen von Raum und Zeit überschreitet.
Dunkler Mystery-Roman, 549 Seiten. Neuauflage Januar 2024.
Prolog: Wandel
Hamburg, Oktober 1944
Der Junge weint. Es ist ein stummes Weinen. Leo sieht die Angst in seinen Augen. Sein Vater hält ihn dicht an sich gepresst, aber es ist keine beschützende Umarmung, sie gibt weder Wärme noch Geborgenheit. Seine Hand umschließt mit hartem Griff das Kinn des Jungen. Gegenüber steht mit blassem Gesicht die Mutter, einzelne Strähnen ihres Haares haben sich gelöst und umtanzen in goldenen Fäden das Tuch um ihren Hals, dessen leuchtendes Rot in den kalten Betonwänden des Bunkers wie eine züngelnde Flamme aufscheint. Gebannt hängt Leos Blick an diesem intensiven Spiel der Farben, scheint es doch das einzig Greifbare, das einzig Wahrhaftige in diesem Raum zu sein.
Sie hält das Kästchen in ihren zitternden Händen, so als könne der kleine Gegenstand ihr Trost und Schutz spenden. Doch nichts an diesem Tag verspricht Schutz. Leo hört das nervenzerreißende Heulen der Sirenen, das von den Wänden nur schwach gedämpft wird. Ein Luftangriff steht bevor. Angstvolles Rufen und das Trampeln unzähliger Schritte dringen durch die dicken Mauern in den abgeschlossenen Raum hinein.
Furcht kriecht in ihm empor. Er hat sich in eine Ecke gedrängt. Die feuchte Wand jagt ihm Schauer über den Rücken, aber er wagt nicht, sich zu rühren. Zwei Männer umrahmen die Szenerie wie Schatten, als hätten sie keinen Teil an dem Drama, das sich vor ihren Augen abspielt. Doch jeder von ihnen ist darin verstrickt. Sie alle sind Beute einer gigantischen Spinne, die mit ihrem Netz alles Lebendige einhüllt.
Einer von ihnen ist Clemens Strindberg. Leo kennt ihn. Er mag ihn. Der junge Mann ist immer freundlich zu ihm gewesen, immer höflich, genau wie die gnädige Frau Agnes, die Mutter des Jungen, die jetzt vor seinen Augen um das Leben ihres Sohnes zittert. Er hat nie böse Worte ihm gegenüber gefunden, ihn auch nie verscheucht wie einen allzu anhänglichen jungen Hund. Clemens ist sehr klug, er findet immer eine Lösung. Und er ist tapfer. Er hat noch nie Angst gezeigt, auch nicht vor dem Herrn Baron. Aber heute sieht er sehr blass aus in seiner Leutnantsuniform, noch immer nicht genesen von der Verwundung, die der Krieg ihm zugefügt hat. Sein Arm steckt in einer Schlinge, weiß, so abweisend wie die Wände um sie herum. Er wirkt unentschlossen, als sei ihm nicht klar, warum er hier ist. Die Pistole hängt schlaff in seiner Hand. Seine Finger krampfen sich immer wieder um den Griff wie ein Automat, bei dem erst der richtige Knopf gedrückt werden muss.
Der andere Mann ist Leo fremd. Er trägt eine SS-Uniform und hält eine Waffe in der Hand. Etwas an ihm ist unheimlich, kündet von einer unterschwelligen Drohung, die nicht allein von dem bläulich schimmernden Eisen der Schusswaffe ausgeht. Es sind seine Augen, denkt Leo. Sie funkeln in dem kalten Licht hart und klar wie Diamanten. Aber gleichzeitig sind sie in weite Ferne gerichtet, als sähen sie Dinge, die sonst niemand sehen kann. Das rote Band mit dem Eisernen Kreuz an seiner Brust spiegelt das Rot des Tuches am Hals der Mutter. Wie Bänder aus Blut. Er schaudert. Seltsamerweise scheint der SS-Offizier die Frau mit dem Kästchen in ihrem Arm für die größere Gefahr zu halten als den Mann, der seinen eigenen Sohn als Geisel hält. Seine Waffe ist unverwandt auf die gnädige Frau Agnes gerichtet. Leo zuckt zusammen, als er sie sprechen hört.
»Bitte, Konrad! Tu ihm nicht weh!« Der flehentliche Ton in ihrer Stimme wird von den Mauern verschluckt. Sie zittert, aber sie weicht auch nicht zurück vor dem eiskalten Blick, mit dem ihr Mann sie fixiert.
Eine Träne rollt über die Wange des Jungen. Leo würde ihm so gerne helfen, ist er doch fast wie ein kleiner Bruder für ihn. Doch was kann er tun? Er hat keine Waffe und selbst wenn – gegen wen soll er sie richten? Er kann nicht sagen, wer oder was in diesem Raum die größere Bedrohung ist.
»Gib mir das Kästchen, Agnes, und ich lasse ihn gehen!«
Leo weiß aus Erfahrung, Konrad von Schelling ist kein Mann, dem man widerspricht. Der Baron hat einen stolzen Charakter, gleichwohl herrisch, kühl und berechnend. Immer souverän und in jeder Situation überlegen. Doch heute ist alles anders. Ihm wird klar, dass der Baron verzweifelt genug ist, seinem Sohn etwas anzutun, wenn er nicht bekommt, was er will.
Sein Blick bleibt an der gegenüberliegenden Wand hängen. Weißliche Kalkablagerungen durchsetzen das Gestein und lassen es aussehen, als würde es von innen heraus vom Schimmel zerfressen. Überall im Raum sind Zeichen und Symbole der Nationalsozialisten angebracht, deren Bedeutung er nicht versteht. Auf eine Weise, die er nicht erklären kann, beunruhigen sie ihn. Besonders fällt ihm das Bild des Reichsadlers ins Auge. Draußen sieht man ihn an jeder Straßenecke, doch dieser hier hält ein Schwert in einer seiner Klauen gepackt. Darunter prangt in roten Lettern eine Inschrift, die wie zum Hohn von der Einheit und dem Zusammenhalt der Deutschen Nation kündet. Er starrt wieder den Mann in der SS-Uniform an. Der Schatten, den er wirft, wirkt lebendiger als der Mann selbst.
»Siehst du nicht, was das Kästchen aus dir gemacht hat?«, klingt Frau Agnes’ Stimme zu ihm hinüber. »Es verändert uns. Uns alle. Wir müssen es vernichten. Bitte, wir können doch …«
»Halt den Mund, Frau! Als du es gewagt hast, mich zu verraten, ist auch das letzte Band zwischen uns zerrissen. Du bist selbst schuld! Jetzt gib es mir endlich!«
Es liegt blanke Wut in seinen Worten. Die Wut schwingt in befremdendem Einklang mit dem Ton der Alarmsirenen. Konrad von Schelling packt das Kinn des Jungen noch fester und zwingt seinen Kopf nach oben.
»Sieh sie dir an, mein Sohn. Sieh, wie sie da steht und um dich bettelt. Kein Rückgrat, keine Stärke! Sie zu heiraten war der größte Fehler meines Lebens. Aber zum Glück einer, den ich korrigieren kann. Sieh nur! Ich habe sie gebeten, mir das Kästchen zu geben – eine einfache Bitte, oder nicht? Sie darf dich dafür wieder in ihre Arme schließen. Aber sie, diese Hure …« – er schleudert das Wort mit solchem Abscheu in ihre Richtung, dass Frau Agnes unwillkürlich einen Schritt zurückweicht – »… sie will mir das Kästchen nicht geben. Stell dir vor, mein Sohn, ein einfaches Holzkästchen ist ihr wichtiger als du.« Bedauernd schüttelt er den Kopf. »Sie ist keine gute Frau, deine Mutter! Sie hat mich belogen und betrogen! Hat sie dafür nicht eine Strafe verdient?«
Der Junge blinzelt. Neue Tränen glitzern in seinen Augenwinkeln. Die Hand des Vaters muss ihm wehtun. Der Baron löst seinen Griff und streicht wie abwesend über das Haar des Jungen.
»Hast du Angst, Sohn? Habe ich dir nicht beigebracht, du sollst keine Angst zeigen? Du bist eine genauso große Enttäuschung wie deine Mutter. Es steckt einfach zu viel von ihr in dir.«
Konrad von Schelling zieht seine Hand zurück und umschließt damit den Hals seines Sohnes. Die gnädige Frau Agnes stöhnt entsetzt auf. Aus der Kehle des Jungen entschlüpft ein leises Wimmern, obwohl er sich bemüht, ganz stillzuhalten. Vielleicht versteht er nicht, warum das alles passiert, aber er spürt instinktiv, dass eine falsche Bewegung, ein falscher Laut, ja sogar ein Blick seinen Vater zum Äußersten treiben kann. Seine angsterfüllten Augen richten sich hilfesuchend auf seine Mutter.
»Rühr ihn noch einmal an, Konrad, und ich werde das Kästchen öffnen!«
Es klingt wie ein verzweifelter Schrei, als sie dies sagt ‒ als ob es die einzige Waffe ist, die ihr noch bleibt, und so sehr ihre schmale Gestalt auch zittert, so sehr die Angst um ihren Sohn sie lähmt, ist es Leo doch bewusst, dass sie nicht nachgeben wird. Es scheint, als sei ihr längst die Wahl genommen worden und alles, was noch zählt, ist das Spiel bis zum bitteren Ende durchzuziehen.
»Was immer du darin zu finden glaubst, wird vergehen und alle deine wahnwitzigen Ideen werden zum Scheitern verdammt sein.« Ihre Finger krallen sich in den Deckel des Holzkästchens.
»Bitte tun Sie das nicht!«
Die Stimme ist leise, beinahe sanft. Der SS-Offizier geht einen Schritt auf die gnädige Frau zu. Sie zuckt zusammen, weicht aber nicht vor ihm zurück. Die Waffe ist immer noch in seiner Hand. Seltsamerweise glaubt Leo, so etwas wie Furcht in den rätselhaften Augen zu entdecken. Dabei wirkt der Mann beherrscht und ruhig. Seine Haltung, seine Züge geben nichts preis.
Leutnant Strindberg – Clemens, der immer so freundlich zu ihm ist –, streckt die Hand mit der Waffe nach dem Mann aus, den Arm, der nicht von dem bleichen Verband umhüllt ist, der so geisterhaft das Licht reflektiert. Vielleicht will er ihn ja zurückhalten, aber aus irgendeinem Grund führt er die Bewegung nicht zu Ende.
Ein unheimliches Lachen entringt sich der Brust Konrad von Schellings, das wild nach oben steigt.
Clemens schüttelt hilflos den Kopf. »Bitte, Herr Baron, das ist doch Wahnsinn. Lassen Sie den Jungen los!« Er presst kurz die Lippen aufeinander, sodass sie einen schmalen Strich bilden, erst dann spricht er weiter. »Ihre Frau wird Ihnen das Kästchen geben, ich verspreche es, aber bitte, lassen Sie ihn los!«
Von Schellings Kopf zuckt herum. Seine Mundwinkel sind verächtlich nach unten gebogen.
»Noch einer, der kein Rückgrat hat! Was ist los, Clemens, bist du allein nicht Manns genug, mir gegenüberzutreten? Versprichst du dir Hilfe von dem da?« Er deutet mit dem Kopf in Richtung des SS-Offiziers, der ihn kühl mustert. »Du hast ja keine Ahnung, worauf du dich eingelassen hast. Du hältst mich für grausam? Für wahnsinnig? Dann sieh diesem da in die Augen, schau genau hin! Er ist nicht das, was er vorgibt zu sein. Merkst du nicht, wie er dich manipuliert? – Ihn solltest du fürchten und alle, die so sind wie er!«
Leo zuckt zusammen, als sich in das unaufhörliche Schrillen der Sirenen das Gebrüll von Flugzeugmotoren mischt. Wenige Sekunden vergehen, die wie Ewigkeiten erscheinen, da erzittert der Boden unter ihren Füßen, als durchflute eine gigantische Welle ihre Körper. Es folgt ein ohrenbetäubendes Geräusch, die ganze Welt scheint zu wanken, Steine und Staub rieseln von der Decke auf sie hernieder. Das Licht flackert, zuckt wie in einem letzten Aufbäumen. Es folgt ein Augenblick atemloser Dunkelheit, bevor sich der bleiche Schein auf wundersame Weise wieder Bahn bricht. Irgendwo schreien Menschen in Panik, aber die Geräusche sind gedämpft, beinahe unnatürlich fern.
Jeder im Raum muss den Atem angehalten haben. Leo fühlt, wie das Leben nach erzwungener Unterbrechung zeitgleich mit dem aufglühenden Licht behutsam fortschreitet. Er hat die Arme schützend über seinen Kopf erhoben. Kalter Schweiß benetzt seine Stirn. Mit zitternder Hand wischt er ihn weg. Er sieht auf die kleine Treppe mit dem Eisengeländer, die hinauf zu einer Stahltür führt. Als habe sein bloßer Blick es beschworen, wird die Tür mit der Gewalt eines Wirbelsturms aufgestoßen und ein Mann stürzt herein. Leo hat ihn schon einmal gesehen, aber er kennt seinen Namen nicht. Er ist sehr groß, mit blondem Haar, ein wildes Feuer leuchtet in seinen Augen. Sein Atem geht heftig, wie nach einem anstrengenden Lauf. Als er die Szene im Innern des Raums erfasst, hält er mitten in der Bewegung inne. Seine Hand klammert sich in den Türrahmen.
»Agnes!« Er spricht ihren Namen aus, obwohl kein Laut über seine Lippen dringt. Sein Blick irrt über den Mann mit dem Jungen in seinem Griff, als seien diese lediglich Requisiten in einer Theaterinszenierung, und bleibt stattdessen voller Wut an dem Offizier hängen, der seine Waffe auf die verzweifelte Frau gerichtet hält.
»Das wagst du nicht, Freund!«, keucht er und sein Gesicht verzieht sich in grimmiger Entschlossenheit. Seine Gestalt ist angespannt wie eine Feder. Er sieht aus, als wolle er mit jeder Faser seines Körpers auf die Frau zueilen, während ihn gleichzeitig eine unbekannte Kraft daran hindert, sich von der Stelle zu bewegen.
»Du kommst zu spät, Erik!«, antwortet der Offizier. Seine Stimme ist unnatürlich ruhig, aber die Hand mit der Waffe zittert, ganz so, als sei sie sich selbst über ihre Absichten nicht im Klaren. »Bitte mach die Sache nicht noch schlimmer.«
»Wenn du abdrückst, werde ich dich bis ans Ende der Hölle verfolgen!«
»Du weißt, ich will das nicht tun!« Es klingt fast entschuldigend, als er das sagt. Aber auch endgültig.
Der Baron unterbricht die beiden mit einem höhnischen Lachen. Kaum merklich bewegt er sich zur Seite, dabei hält er seinen Sohn weiter fest in den Armen.
»Dein Hurenbock hat sich Zeit gelassen, zu deiner Rettung zu eilen«, sagt er boshaft zu seiner Frau. »Mir hätte klar sein sollen, dass ihn Kugeln allein nicht aufhalten können. Leider wird er dir nicht helfen können. Jetzt sei zum letzten Mal eine brave, treusorgende Ehefrau und Mutter – gib mir das Kästchen!«
Frau Agnes weicht einen Schritt vor Konrad von Schelling zurück. Ihre Blicke wandern unsicher zu der geöffneten Tür und dem großen, blondhaarigen Mann hinüber. Von weit hinten hört man angstvolle Stimmen, jemand spricht leise; vielleicht ein Gebet.
»Erik? Nein, das ist nur ein Traum! Gott, wieso geschieht das alles hier?«
Ein Schluchzen entringt sich ihrer Kehle. Leo wünscht sich, er könnte sie trösten. Sie schwankt, einen Moment scheint es fast, als würde sie stürzen. Doch dann fasst sie sich wieder. Sie blickt den blonden Mann an, ihr Gesicht ist bleich wie das einer Toten.
»Es tut mir so leid. Aber ich kann nicht mehr zurück!« Entschlossen krampfen sich ihre Finger um den hölzernen Gegenstand.
»Agnes, nicht!« Der blonde Mann streckt eine Hand aus, als könne er sie mit der bloßen Bewegung daran hindern, das Kästchen zu öffnen. Konrad von Schellings Lippen formen einen tonlosen Laut. Leo sieht, wie sich der Deckel eine Winzigkeit anhebt, nur eine Winzigkeit, hinter der eine Unendlichkeit steckt.
Ein grenzenloser Moment absoluter Stille folgt. Leo hört nur das Pochen eines Herzschlags, rhythmisch, in absolutem Gleichklang mit dem Vibrieren des Universums. Die Welt verflacht zu einem Filmstreifen, aufgewickelt auf einer gigantischen Spule, die sich in quälender Langsamkeit dreht und zweidimensionale Bilder in eine unaufhörliche Schwärze hineinspuckt. Jegliches Ding hat seine Ausdehnung verloren und existiert nur noch als Schattenriss. Eine Geschichte wird erzählt, aber eine Geschichte, aus der die Sprache entfernt worden ist.
Es ist der Schuss, der ihn wieder in die Wirklichkeit zurückreißt.
Die gnädige Frau Agnes fällt. Der blonde Hüne stürzt mit einem Aufschrei vorwärts und fängt sie auf, bevor ihr Körper den Boden berührt. Das Kästchen entgleitet ihren Händen und poltert dumpf auf den Beton. Mit einem heiseren Laut lässt Konrad von Schelling seinen Sohn fallen. Leo überwindet seine Starre, kriecht zu ihm hinüber und zieht ihn schützend zu sich heran. Der Junge schluchzt und zittert, unfähig, den Blick von seiner Mutter abzuwenden, die leblos in den Armen des fremden Mannes liegt. Mit sanfter Gewalt dreht Leo ihm den Kopf zur Seite, um ihm den Anblick zu ersparen. Das rote Halstuch bewegt sich in einem imaginären Wind. Seine intensive Farbe malt Schatten auf den Boden. Die gnädige Frau hat ihm und ihrem kleinen Jungen manchmal abends vor dem Einschlafen Geschichten erzählt. Frau Agnes ist immer sehr gut zu ihm gewesen.
Warum ist es auf einmal so laut? Der ganze Raum dröhnt, sodass er sich am liebsten die Ohren zuhalten würde. Aber er muss den Jungen beschützen. Leo strengt seine Augen an, obwohl der Lärm seinen Kopf zu sprengen droht. Der Baron will auf das Kästchen zustürzen, doch der SS-Offizier ist bereits über ihm, ein schwarzer Dämon, und hält ihn fest. Sie ringen miteinander.
Ein zweiter Schuss fällt. Er kann ihn nicht hören, und doch ist es so, als würde sein Schall unendlich andauern. Der Offizier taumelt zurück und bricht in die Knie. Dann ist Clemens da und versperrt ihm die Sicht. Alles um ihn ist so laut.
Der Boden zittert schon wieder.
Das sagen meine Leser
»Ein Buch für gemütliche Schmökerabende.«
»Originell und witzig geschrieben, aber auch spannend und bewegend.«
»Ein großartiger Schmöker zum Versinken und Genießen!«
Buchtrailer
Buchzitat
Figuren & Konzepte
Jonas Loring: geheimnisvoll schweigsam, unsterblich
“Du fühlst es, nicht wahr? Tief in dir kennst du die Wahrheit, und du fürchtest dich davor, ihr ins Angesicht zu blicken. Das Kästchen ist alles und nichts. Ein Spiegel, dein innerster Raum. Dein Verderben oder deine Erkenntnis. Wähle nicht das Verderben, denn es wird nicht nur dich, sondern alle, die du liebst, mit dir reißen.”
Ein weiser Ratschlag, den Jonas mehr als sechs Jahrzehnte zuvor Lia Strindbergs Großvater gegeben hat. Zu dumm, dass er sich selbst nicht daran gehalten hat. Zweifellos war es bequemer, sich auf einem südenglischen Landsitz zu verkriechen und zu hoffen, dass sich die Dinge von alleine regeln. Alter schützt eben vor Torheit nicht, selbst dann nicht, wenn man unsterblich ist. Sonst hätte er den Schlüssel zur Kammer des Wissens nicht leichtfertig aus der Hand geben. Die Frage ist, wird Lia den gleichen Fehler begehen wie er? Noch ahnt sie nicht, welches Vermächtnis ihre Familie ihr in dem antiken ägyptischen Spiegelkästchen hinterlassen hat. Denn was in den längst vergangenen Wirren des 2. Weltkriegs geschah, wirft seine Schatten noch immer voraus. Ein alter und unberechenbarer Feind, der sich in den Reihen der gelehrten Bruderschaft der “Sopherim” verbirgt, hat bereits ihre Witterung aufgenommen. Jonas wird sich wohl oder übel entscheiden müssen, ob er lieber Jäger oder Gejagter sein will.
George Kenyon: schrullig, britisch, Gentleman
“Du kannst mich nicht einfach zu einem Erholungsurlaub aufs Land schicken. Ich arbeite seit dreißig Jahren für die Sopherim und habe ein Recht zu erfahren, was los ist.”
Mit einem Unsterblichen befreundet zu sein und als Teilzeit-Informand herhalten zu müssen, ist eine Herausforderung für sich. Gehüllt in einen Tweedanzug, mit einer Vorliebe für Tee und warme Scones mit Marmelade, ist George Kenyon zwar ein britischer Gentleman der alten Schule, jedoch alles andere als heldenhaft veranlagt. Daran ändert auch die Tatsache nichts, Mitglied einer uralten Bruderschaft zu sein, die ihre Nase zu tief in Mythen und Legenden steckt. Nicht umsonst hat er sich dem Beruf des Architekten verschrieben. Es ist jedoch eine Sache, ob man an einem sonnigen Tag mit Zollstock, Bandmaß, Lot und Wasserwaage hantiert und Grundpläne studiert, oder ob man in einem verrotteten Verlies zusammen mit Spinnen und Ratten festsitzt (Kenyon hasst Ratten) und keine Ahnung hat, warum. Außer dass es Verräter in den eigenen Reihen gibt, die es auf die ehemaligen Teilnehmer einer Grabungskampagne abgesehen haben – und die genau wie er vor Jahren nach der Kammer des Wissens geforscht haben. Auch wenn er sich gerne darüber beschwert, im Dunkeln gelassen zu werden – eins hat Kenyon aus seiner Freundschaft mit Jonas gelernt: Manche Geheimnisse sollten besser nicht gelüftet werden. So kann er nur hoffen, dass sein Entschluss, die Sache bis zum bitteren Ende durchzustehen, ihn nicht um Kopf und Kragen bringt.
Lia Strindberg: neugierig, aufmüpfig, stur
“Wenn es nach meiner Großmutter geht, dann bin ich aus der Art geschlagen. Ich bin weder so schön und so klug wie meine Mutter, noch so souverän und großzügig wie mein Großvater. Nur ein bockiges, kleines Kind, das seinen Willen durchsetzen will.”
Es ist nicht leicht, man selbst zu sein, wenn man ständig an anderen gemessen wird. Noch dazu an der eigenen Familie. Lia, ein bruchstückhaftes Glied in einer Kette von Helden? Um aus dem Schatten ihrer übermächtigen Vorgänger zu treten, flüchtet sie sich nach dem Tod ihrer Großmutter, ihrer letzten lebenden Verwandten, nach London, wo sie inzwischen erfolgreich ihr Studium beendet hat. Lias großer Traum ist es, als Künstlerin Fuß zu fassen und später eine eigene Galerie zu eröffnen. Stattdessen wird sie plötzlich von mysteriösen Schatten verfolgt, überfallen, mit einem Familiengeheimnis und einem magischen Erbstück konfrontiert, in eine Verschwörung hineingezogen und verliert beinahe ihren besten Freund. Grund genug, mit dem Schicksal zu hadern? Nicht Lia. Denn auch wenn ihr Leben von heute auf morgen auf den Kopf gestellt wird, gibt es eine Sache, der sie einfach nichts entgegenzusetzen hat: ihre Neugier. Und wenn die Ereignisse allein nicht Grund genug sind, ihre Neugier zu wecken, dann ist da immer noch dieser mysteriöse junge Mann, der sie vor ihren unbekannten Verfolgern rettet und mehr über die Vergangenheit ihrer Familie weiß, als er zugibt. Und der ihr einfach nicht mehr aus dem Kopf geht …
Professor Camus: belesen, hochintelligent, stilles Wasser
“Wie wir gesehen haben, ist das Phänomen der Zeit im Alten Ägypten ganz anders betrachtet worden, als es in unserer abendländischen, vom griechischen Denken geprägten Kultur der Fall ist. Für uns bildet die Zeit eine Linie, eine klar gegliederte, konstante Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Ägypter dagegen stellten sich die Zeit als ein vielfach geflochtenes Seil vor oder als einen Kreis, in Grabdarstellungen gerne symbolisiert durch eine Schlange, die ihren eigenen Schwanz verschlingt.”
Arthur Camus, ein international renommierter Professor für Ägyptologie mit Lehrstuhl in Heidelberg, wird laut Aussage seiner Frau Isabel von seinen Bekannten für einen vergeistigten, wenn auch genialen Kopf gehalten, der mit der Nase zu tief in Fachliteratur steckt, während seine Kritiker ihn zu einem meisterlichen Schöpfer konstruktiver, aber bedauerlicherweise unbeweisbarer Theorien erklären und Neider seine Kritiker loben, weil sie seine Theorien nicht verstehen. Jonas, Lia und Kenyon, die es im Verlauf der Ereignisse nach Deutschland verschlägt, glauben mit seiner Hilfe die wahre Identität der Verräter aufdecken zu können. Als hochrangiges Mitglied im Kreis der illustren Sopherim und mit einem scharfen Verstand und einer Portion Misstrauen gesegnet, will Camus seinem Freund George Kenyon nicht glauben, dass jemand über Leichen geht, um die Kammer des Wissens zu finden. Nach Jahren der Forschung hält er die Kammer schlichtweg für einen Mythos. Behauptet er zumindest. Doch Camus ist ein ehemaliger Studienkollege von Lias Mutter und diese hat, wie Jonas beharrt (eines der wenigen Dinge, die er preisgibt), einst die Kammer betreten – bevor sie auf tragische Weise ums Leben kam. So stellt sich bald die Frage, wem Camus’ Loyalität gilt – einer fragwürdigen Bruderschaft oder alten Freundschaften?
Erik Eriksson: Wikinger, unsterblich, direkt
“Ich möchte nicht, dass Sie denken, ich sei ein gefühlloses Ungeheuer. Es ist einfach eine Frage der Prioritäten. Ich habe niemals aus Spaß getötet, nicht einmal in meinen wildesten Zeiten, wo ein Krieger wie ich allein für den Blutrausch, ein paar Goldmünzen und eine anständige Mahlzeit lebte. Aber das sind längst vergangene Tage.”
Unsterblicher, Wikinger, Barbar, Hüne, Rebell, Seefahrer, Reisender, Arzt, Kunstfälscher, Liebhaber, Lebemann – es gibt viele Worte, um Erik Eriksson zu beschreiben, doch keines davon wird ihm annähernd gerecht. So vielfältig wie seine Persönlichkeit, so authentisch ist sein Charakter. Er lebt sein Leben, geniesst, was es ihm bietet – nicht zuletzt die gebildete und wunderschöne Ehefrau von Professor Camus – und bedauert nur eins: sich für ein begangenes Unrecht nicht an seinem einstigen Weggefährten Jonas gerächt zu haben. Bis ihm das Schicksal die Möglichkeit dazu bietet. Doch was, wenn er damit nicht nur die Geister der Vergangenheit heraufbeschwört, sondern einem gemeinsamen Feind in die Hände spielt?
Sopherim
“Sopherim sind Leute, die sich zu wichtig nehmen. Sie sitzen in staubigen alten Bibliotheken, über staubige alte Werke gebeugt, die außer ihnen nie ein Mensch zu Gesicht bekommen hat. Wenn sie nicht lesen und studieren, dann reden und diskutieren sie, und wenn sie diskutieren, fallen sie einem damit ständig auf die Nerven.” − Aussage von George Kenyons Ehefrau Mary
Abgeleitet vom hebräischen Wort Sopher für ‘Schreiber’ (der Plural Sopherim ist in der jüdischen Tradition eine Bezeichnung für die Schriftgelehrten des Alten Testaments), fand sich in längst vergangenen Tagen ein unabhängiger Kreis aus Gelehrten zusammen. Im Bewusstsein des schleichenden Niedergangs der antiken Welt und ihres Gedankenguts, sammelten sie deren wissenschaftliche und kulturelle Errungenschaften an wohlgehüteten Orten und erhielten sie für die Nachwelt. Einst von der katholischen Kirche verfolgt, breitete sich im Laufe der Jahrhunderte ein Netzwerk aus geheimen Bibliotheken und durch die Tradition verbundener Gelehrter über den gesamten Globus aus. Ihr Wissen ist ihre Macht. Daher lässt sich ihr Einfluss in wissenschaftlichen, politischen und militärischen Kreisen nur erahnen. Obwohl weder Mystiker, Magier oder Hexen, befassen sich einige von ihnen seit Alters her mit Magie und Okkultismus. Diesem Umstand dürfte es zu verdanken sein, dass sich innerhalb der Sopherim schon früh eine verdeckt operierende Gruppe formiert hat, die sich selbst Basilisk nennt und zu radikalen Mitteln greift, wenn es der Durchsetzung ihrer obskuren Ziele dient. (Jonas Lorings vagen Andeutungen zufolge verbindet ihn eine lange und wechselhafte Geschichte nicht nur mit den Sopherim, sondern auch Basilisk.) Soviel bekannt ist, steht den Sopherim eine internationale Ratsversammlung vor. Ihre auf der Welt verteilten Niederlassungen werden in Anlehnung an die universitäre Terminologie jeweils von einem Dekan geleitet. Die Sopherim selbst bezeichnen ihre Verbindung als Kreis. Der Ouroboros ist ihr Erkenunsgssymbol.
Ouroboros
“Vielen von Ihnen dürfte dieses Symbol geläufig sein. Sein Ursprung geht zurück auf die sogenannte ‘Weltumringler’-Schlange. Die altägyptische Bezeichnung hierfür lautet Meḥen-ta. Die Griechen nannten die Schlange später ‘Ouroboros’, was nichts anderes als ‘die ihren Schwanz Verzehrende’ bedeutet. Diese Schlange, bzw. der Kreis, stellt das totalitäre Prinzip einer kosmischen Zeit dar.” − Professor Arthur Camus in einem Vortrag über das Selbstverständnis altägyptischer Kultur
Ouroboros – die Einheit der Gegensätze. Unendliche Zeitfülle. Kein Anfang, kein Ende. Wandel. Vollendung. Vollkommenheit. In sich ruhend. Schöpfung aus sich selbst heraus. Erneuerung. Unendlichkeit. − Ein Archetyp des Geistes, der weder Innen noch Außen kennt, sich selbst genügt und für den Zeit und Raum keine Bedeutung hat. Symbol der Sopherim als Zeichen ihrer Beständigkeit, ganzheitlichen Denkweise und ihrer Ablehung des vorherrschenden kausalistischen Weltbildes. Erkenntnis und Geheimnis.
Kammer des Wissens
“Eine alte Legende, derzufolge das gesammelte Wissen der Menschheit in einer geheimen Kammer in oder unter der großen Pyramide des Königs Cheops verborgen sein soll. Du hast sicher schon einmal davon gehört.” – Jonas auf Lias Nachfrage, was die Kammer des Wissens ist
Schon immer haben die Pyramiden des Alten Ägypten die Phantasie der Menschen angeregt. Unentdeckte Grabschätze, Einweihungsort und Schauplatz mysteriöser Riten, Hort verborgener Kammern und Gänge mit geheimnisvollen Schriftrollen, Sternkarten, Hinweisen auf eine hochtechnologisierte Kultur, die vor der Sintflut existierte und mit ihr unterging − die Sagen und Legenden, die sich seit der Antike um die Pyramiden von Gizeh und die Cheopspyramide insbesondere ranken, sind so vielschichtig wie der menschliche Geist. Bereits die Römer suchten in der Großen Pyramide nach vergessenen Schätzen, ebenso die arabischen Fürsten des frühen Mittelalters, raffgierige Grabräuber, Abenteurer und die ersten seriösen Archäologen. Gefunden hat man − nichts. Aber warum hält sich das Gerücht um die Existenz einer geheimen Kammer so hartnäckig? Jonas Loring, der niemandem verrät, wie lange er tatsächlich schon auf der Erde weilt, könnte diese Fragen möglicherweise beantworten, aber wie so oft zieht er es vor zu schweigen. So bleibt als einziger Hinweis das altägyptische Spiegelkästchen, das auf verschlungen Wegen in Lias Besitz gelangt ist. Und von dem manche behaupten, es sei der Schlüssel zu Kammer des Wissens …
Spiegelkästchen
“Öffne mir!− Wer bist Du? − Was bist Du? − Wo bist du entstanden? − Ich bin einer von Euch!”
Diese kryptischen Worte zieren in Hieroglyphen das mit Goldblech überzogene Ebenholzkästchen, das Lia Strindberg im Nachlass ihrer Familie gefunden hat. In seiner Form einem Anch-Zeichen bzw. einem Henkelkreuz nachempfunden, wurde es 1938 von Lias Großvater im Grab einer ägyptischen Prinzessin entdeckt. Aber was ist, abgesehen von seinem antiken Wert, so Besonderes daran, dass Jonas es fürchtet wie die zehn biblischen Plagen, Lia stets ein ungutes Gefühl in seiner Nähe empfindet und bereits die Nazis alles darangesetzt haben, um es in ihre Finger zu bekommen? Fragen, die an dieser Stelle nicht beantwortet werden können. Vielleicht ist und bleibt alles — ein Mythos …?