Metalepsis: Wenn das Monster aus dem Buch dein Zimmer betritt

Metalepsis – die vierte Wand zwischen Fiktion und Realität

Kennst du das Gefühl? Du bist allein, es ist später Abend, du hast es dir auf dem Sofa gemütlich gemacht. Der Regen klopft sanft an die Scheiben, während du ein spannendes Buch liest und eine warme Tasse Tee genießt. Die Geschichte reißt dich mit, sie ist düster, unheimlich, aber du sitzt behütet in der warmen Wohnung.

Gebannt blätterst du eine weitere Seite um – und plötzlich spürst du eine Präsenz hinter dir. Mit absoluter Gewissheit spürst du: Du bist nicht mehr allein. Das Monster aus dem Buch ist bei dir. Du kannst es vielleicht nicht sehen, aber es starrt dich an. Selbst nachdem du das Buch zugeklappt und weitere Lichter angemacht hast, kannst du es immer noch wahrnehmen. Der Schlaf kommt in dieser Nacht nur langsam. Dein Verstand mag es leugnen, aber tief in dir spürst du, dass eine Grenze überschritten wurde … und es wird nicht das letzte Mal sein.. 

Willkommen bei der Metalepsis – oder einfacher gesagt: dem Durchbrechen der vierten Wand, dem Moment, wo Fiktion und Realität verschwimmen und Geschichten aufhören, harmlos zu sein.

Die Geburt eines gefährlichen Begriffs

Metalepsis – das Überspringen von Erzählebenen

Metalepsis kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet »Übernahme« oder »Ergreifen«. Ursprünglich war es ein Stilmittel der Rhetorik. In der modernen Literaturwissenschaft beschreibt eine Metalepsis (alternativ: Metalepse) das Überspringen von Grenzen zwischen verschiedenen Erzählebenen. Das passiert, wenn eine fiktive Figur sich ihrer selbst gewahr wird und ihren gewohnten Handlungsrahmen verlässt – zum Beispiel, indem sie den Leser der Geschichte direkt adressiert.

Ein bekanntes modernes Beispiel ist die Figur des »Deadpool« in den Marvel-Verfilmungen. Mitten im Geschehen wendet sich Deadpool mit vorlauten Kommentaren direkt an die Zuschauer. Er erklärt, warum etwas passiert, oder beschwert sich darüber, wie »schlecht« der Plot gerade läuft.

Das ist der Moment, wenn eine Figur lebendig wird und die Geschichte in unser Leben eingreift. Und manchmal beginnen wir uns zu fragen: Was, wenn wir selbst nur Figuren in einer größeren Erzählung sind?

Und hier wird es spannend. Wir begeben uns in die Meta-Ebene, den Bereich, wo Fiktion und Realität verschwimmen.

Wo ist die Grenze zwischen Fiktion und Realität?

Im Theater spricht man davon, die vierte Wand zu durchbrechen. Diese Wendung bezieht sich auf die unsichtbare vierte Wand einer Bühne – also die Grenze zwischen Schauspieler und Zuschauer. Sie kann ebenso in Büchern, Filmen und Serien vorkommen. Es ist die Grenze, die Fiktion von unserer Realität trennt. Genau hier setzt Metalepsis an.

In Kunst und Literatur berühren sich die beiden Bereiche oft. Aber steckt mehr dahinter, als wir glauben? Vielleicht hattest du selbst schon öfter das Gefühl, nur ein Narrativ zu sein, während jemand anderer deine Geschichte – dein Leben – erzählt?

Sprache ist Magie. Worte erschaffen Realitäten. Und manche Worte öffnen Türen, die besser geschlossen bleiben sollten.

Die Psyche: Was in uns geschieht

C.G. Jung, Pionier der analytischen Psychologie, blickte tiefer als die meisten. Er sprach von der »aktiven Imagination« – der Fähigkeit, bewusst mit dem sogenannten Imaginalen zu interagieren. Jener Realitätsebene zwischen dem rein Materiellen und dem völlig Abstrakten, wo Archetypen leben, Träume Form annehmen und Geschichten warten.

Jung nannte es das Kollektive Unbewusste. Manche bezeichnen es als imaginable Welten – all das, was vorstellbar ist im Gegensatz zu dem, was wir uns einbilden. Diese Unterscheidung ist wichtig. Einbildung ist nicht gleichzusetzen mit Phantasie.

Im Falle eines aktiven Erlebens begeben wir uns hier bereits langsam in den Bereich dessen, was gern als »paranormal« bezeichnet wird, weil es nicht empirisch bewiesen werden kann.

Pablo Picasso soll den Satz geprägt haben: »Alles, was wir uns vorstellen können, ist real.« 

Das bringt es auf den Punkt. Das Vorstellbare besitzt eine greifbare Qualität, einerseits erscheint es uns unwirklich, doch manchmal tritt es auf unerwartete Weise in unser Leben. Wir nennen es dann ein »Wunder«. Oder, wenn es sich negativ anfühlt und wir es nicht rational erklären können, eine »unheimliche Begegnung der dritten Art«. Und – wenn wir es partout nicht akzeptieren wollen – Einbildung.

Keine Frage, Einbildung existiert. Sie wird jedoch von unserem Verstand erzeugt. Das können Dinge sein, die wir uns einreden, oder Sorgen und Gedanken, die uns quälen. Oft handelt es sich dabei um negative Glaubenssätze. (»Ich bin nicht gut genug.« – »Das schaffe ich niemals.« – »Das Vorstellungsgespräch geht bestimmt wieder schief.«)

Die Grenze zwischen Einbildung und Phantasie – dem Vorstellbaren – kann fließend sein. Nicht immer lassen sich die beiden einfach unterscheiden. Faustregel: Einbildung ist, wenn ich mir selbst ständig etwas einrede (oder von anderen einreden lasse). Phantasie (Vorstellungskraft) ist, wenn ich einen mir unbekannten Bereich betrete und ihn mit Bildern fülle.

Ich nenne es Imagiya.

Drache zwischen den Welten

Exkurs: Das Imagiya-Universum und andere Realitäten

Imagiya: Wo Realitäten zuhause sind

Imagiya ist nicht rein zufällig der Name meines Buch-Universums. Schon das Wort »Imagiya« verbindet Magie und Imagination. Es ist der Ort, wo Magie und Storytelling verschmelzen. Hier existiert alles, was erdacht, vorgestellt oder gewünscht werden kann – und alles jenseits davon. Das geht weit über harmlose Märchenfiguren oder mythologische Götterwesen hinaus. Raum, Zeit, Endlichkeit – Beschränkungen dieser Art existieren dort nicht.

Es spiegelt zugleich mein Motto:

Glaube nicht alles. Aber glaube, dass alles möglich ist.

Das Zwielicht: Wo Ängste zu Monstern werden

Das Zwielicht ist eine Dimension von Imagiya, der Bereich zwischen den verschiedenen Sphären – parallel zu unserer Welt, aber unsichtbar und feinstofflich. Es ist die Heimat der Geister, der dunklen Träume und Ängste, die zu Wesenheiten werden.

Übertragen gesprochen: Wenn Imagiya alles Existierende und alles Vorstellbare ist, dann ist das Zwielicht die »vierte Wand«, die dünne Grenze zwischen Realität und Fantasie – der Punkt, an dem Geschichten beginnen, dich heimzusuchen. Es ist die Bühne des Theaters, ein Ort der realen Begegnung. Im Zwielicht manifestieren sich die dunkelsten Ecken der menschlichen Psyche: Ängste werden zum Alb, der dich des Nachts würgt. Begierden verwandeln sich in einen Succubus, der deine Lebenskraft aussaugt. Selbstzweifel nehmen die Gestalt von Schatten an, die dir flüstern, dass du ein Versager bist.

Hier kann selbst die Einbildung zum Nährstoff für das Vorstellbare – und damit real – werden.

Jede Geschichte, die jemals aus Trauer geboren wurde, jeder Alptraum, der stark genug war, um in Erinnerung zu bleiben – sie alle sammeln sich hier. Und sie hungern nach mehr.

Metalepsis ist der Moment, in dem diese Wesen stark genug werden, um die Grenze zu durchbrechen und aus einer Geschichte in deine Realität zu treten. Genau so entstehen Berichte, die einem Horrorfilm entstammen könnten, paranormale Begegnungen oder Albträume, die mehr sind als bloße Fantasie. Plötzlich ist das Monster aus deinem Lieblingshorrorfilm nicht mehr auf der Leinwand. Es steht in deinem Schlafzimmer.

Die Sagengestalt des Alp, die irische Banshee oder auch die mysteriösen Shadow People, zu denen es unzählige Berichte gibt, sind nachvollziehbare Beispiele dafür.

Die umgekehrte Wahrheit

Aber hier ist das wirklich Verstörende: Was, wenn wir es falsch herum verstehen?

Was, wenn nicht unsere Ängste zu Monstern werden – sondern Monster unsere Ängste erzeugen? Was, wenn die Wesen aus Imagiya uns nicht nur besuchen, sondern uns programmieren?

Jeder Horrorfilm, den du siehst, jede Gruselgeschichte, die dir unter die Haut geht, jeder Alptraum, der dich schweißgebadet aufwachen lässt … Was, wenn das alles Nachrichten sind? Informationspakete aus dem Zwielicht, die dir zeigen, was jenseits davon auf dich wartet?

Joshua Cutchin, Autor und Forscher für paranormale Phänomene, nennt es »fictional incursions« – fiktionale Grenzüberschreitungen. Seine These: Übernatürliche Wesen borgen sich Formen aus unserer Popkultur. Geister, UFOs, Urban Legends … sie nehmen die Gestalt an, die wir ihnen verliehen haben.

Vielleicht sind Stephen King und H.P. Lovecraft keine Erfinder, sondern Übersetzer. Übersetzer von etwas, das real existiert, das wir aber in seiner reinen, ursprünglichen Form nicht verstehen können. 

An dieser Stelle müssen wir uns ebenfalls fragen: Woher wissen wir denn, dass wir nicht selbst die »Erfindungen« sind – in Interaktion mit dem, was wir für Fiktion halten? 

Auf dieser Metaebene begegnen sich zwei unbekannte Variablen – »wir« und »das andere« – und geben sich gegenseitig Form.

Durchschreiten der vierten Wand - Geist liest Buch

Die Gefahr des Erschaffens

Metalepsis ist der Moment, in dem Geschichten anfangen, zurückzublicken …

Jeder Autor kennt es: Der Moment, in dem ein Charakter plötzlich eigenmächtig handelt. Wo du planst, dass er links abbiegt, aber er stur nach rechts marschiert. Wo du ihn sterben lassen willst, aber er sich weigert.

Die harmlose Erklärung: »Das Unterbewusstsein arbeitet.«

Die andere Erklärung: Du hast einem Wesen aus Imagiya einen Namen gegeben. Einen Körper. Eine Geschichte. Und jetzt will es mit dir interagieren.

Metalepsis ist nicht nur ein literarisches Stilmittel. Es ist eine Beschwörung. Jedes Mal, wenn du eine Geschichte schreibst, ja, eine Geschichte liest, die zu real wird, öffnest du eine Tür. Und manchmal kommt etwas durch, das größer ist als deine Kontrolle.

Aber eine Beschwörung beinhaltet auch Macht. Denn nicht nur unsere »imaginierten« Geschichten entwickeln ein Eigenleben. Erinnern wir uns: Wir selbst sind Geschichten. Fiktionen, Narrative, die wir uns selbst erzählen oder die andere uns einreden wollen. Wir glauben, nur innerhalb enger Grenzen Einfluss auf unser Leben zu haben. Sind wir mal ehrlich: Wie viele von uns leben ihr Leben selbstbestimmt? Und wie oft lebt das Leben uns? 

Wenn wir uns der vierten Wand bewusst werden und erkennen, dass wir selbst nur eine Geschichte sind – dann können wir unsere eigene Geschichte neu schreiben. Oder würdest du sie lieber einem unbekannten Autor überlassen?

Mairis Autoren-Ich flüstert aus dem Zwielicht:

»Ich dachte, ich erschaffe Geschichten. Aber was, wenn die Geschichten mich erschaffen? Ich bin nicht die Autorin. Ich bin das Medium. Und manchmal frage ich mich, wer wirklich diese Worte tippt. Doch was ist mit meiner eigenen Geschichte? Die, in der ich die Hauptrolle spiele? Vielleicht ist es an der Zeit, Erschafferin meiner eigenen Geschichte zu werden, anstatt nach einem mir unbekannten Script in ihr zu agieren …«

Was bedeutet das für dich?

Das Monster unter deinem  Bett … du hast es verdrängt, als du erwachsen wurdest. Aber in Wahrheit war es niemals fort.

Hast du seither eine Geschichte gelesen, die allzu real war? Ein Buch, das dich verfolgt hat? Einen Film, der in deinen Träumen weiterging?

Hast du schon mal beim Schreiben das Gefühl gehabt, dass da jemand anders mit dir am Werk ist? Dass die Worte von woanders kommen?

Hast du schon mal in einem alten Haus gestanden und gespürt, dass dort Geschichten leben? Nicht Erinnerungen – lebendige Geschichten, die sich abspielen, ob jemand zuschaut?

Hast du schon mal gedacht, dass du nicht der Autor deines Lebens bist, sondern nur die Figur eines unbekannten Erschaffers?

Dann hast du eine Form von Metalepsis erlebt, das Durchbrechen der vierten Wand zwischen Fantasie und Realität. Du standest im Zwielicht, an der Grenze zu Imagiya.

Die Frage ist: Bist du bereit, sie zu überschreiten?

👻 Was ist deine Meinung dazu? Hast du schon mal eine zu reale Geschichte erlebt? Teile sie in den Kommentaren (falls du den Mut hast …)

Warnung! Wenn du beim Lesen das Gefühl hattest, beobachtet zu werden … nun ja. Das Zwielicht starrt immer zurück.  🌙

Postscriptum

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Abbildungen: Die verwendeten Bilder sind mit KI erstellt (Midjourney AI).

Hochaktuell

9 Meinungen zu “Metalepsis: Wenn das Monster aus dem Buch dein Zimmer betritt

  1. O ihr Menschlein! Ihr haltet Fantasie für eine harmlose Spielerei – ein Autor, der mit seinem Leser plaudert oder ein Maler, der seine Ideen auf Leinwand bannt (Adam, ich schaue dich an!!!). Was ihr in Wahrheit macht, ist, Risse ins Zwielicht zu reißen. Ihr kratzt an der vierten Wand. Metalepsis ist der Moment, in dem jemand zum ersten Mal durch den Riss blickt. Und durch diese Risse kriechen Dinge, die niemals Fleisch werden sollten.

  2. Ich erkenne mich wieder. Auch wenn ich Bilder male, statt Bücher zu schreiben. Ist das womöglich pathologisch?
    Übrigens, Solon: Statt zynischer Bemerkungen könntest du dich mal nützlich machen. Du bist doch das magische, unsterbliche Wesen. Es ist dein Job, solche Katastrophen zu verhindern.

  3. Menschen, die sich für Autoren halten! Liebe Autoren und Schriftsteller da draußen, als freifliegende Hexe weiß ich: Sie sind nur Übersetzer zwischen den Welten. Jede Geschichte, die jemals erzählt wurde, existiert bereits in Imagiya. Sie fischen sie nur heraus und glauben, Sie hätten sie erfunden.

  4. Spannend. Den Begriff habe ich vorher noch nie gehört. Metalepsis klingt für mich eher wie eine seltene Krankheit. 😀 Ich hab das beim Schreiben aber auch manchmal. Manche Figuren erfinden sich sogar selbst. Muss ich mir jetzt Sorgen machen? Energetische Besetzung oder so? 😉

      1. Ich muss doch sehr bitten. »Spiegeldracheneier« … Korrekterweise wären das übrigens »Drachenspiegeleier«. Aber wo kommen wir denn hin, wenn hier jeder Laie magische Hausmittelchen empfiehlt? Wenn Figuren sich selbst erfinden, zeugt das schlicht von einem guten »Draht nach oben«. Davon abgesehen, kann Tee jeglicher Art kreative Prozesse unterstützen. Viel Trinken ist immer gesund!

  5. Unsere Archive enthalten Berichte über … Vorfälle. Autoren, die zu tief gegraben haben. Die ihre Charaktere zu real werden ließen. Einer schrieb einen Roman über Dämonen – und fand Brandspuren in seinem Manuskript. Eine andere erfand einen Mörder für ihre Krimis – und bekannte später, sie könne nicht mehr schreiben, weil »er« ihr über die Schulter schaue. Wenig später fand man ihre Leiche, Todesursache unbekannt, wie im Entwurf ihres jüngsten Krimis. Wir haben diese Fälle klassifiziert, aber manchmal frage ich mich, ob wir sie nicht hätten verbrennen sollen

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