Mein neuer „Quickie“ aus dem Imagiya-Buchuniversum führt dich in die Welt der musikalischen Gargoyles – sofern es musisch begabte Gargoyles wirklich gibt. Entscheide selbst. 🙂 Humor trifft auf Fantasy.
Die Arie des Gargoyle Grimsley – Fantasy mit Humor
Hoch oben auf dem Kathedralendach von Notre-Dame thronte Grimsley der Gargoyle und beäugte sein Reich mit kritischem Blick. Das langsam erwachende Treiben in den Straßen unter ihm interessierte den kleinen Wasserspeier nicht. Seine ganze Aufmerksamkeit galt den prächtigen Buntglasfenstern, die die Kathedrale zierten. Genauer gesagt der Art und Weise, wie sie das goldene Licht der aufgehenden Sonne brachen und reflektierten. Anders als seine Artgenossen musste er die Dämmerung nicht fürchten. Der Erste Fluch hatte ihn verschont – warum, das wusste er selbst nicht so genau. Er war der einzige Gargoyle, der tagsüber nicht versteinerte. Nicht, dass das heute noch eine Bedeutung hätte, denn er war zugleich der einzige Gargoyle, der in dieser Welt noch existierte. Er war schon immer besonders gewesen. Vielleicht lag es an seiner künstlerischen Begabung?
»Wahrlich ein Meisterwerk«, gurrte Grimsley und reckte stolz seine schmächtige Brust. »Fast so vollkommen wie ich.«
Er betrachtete die kunstvollen Verzierungen, die seinen zierlichen Körper bedeckten. Grimsley war kein gewöhnlicher Gargoyle – er war ein Kunstwerk, eine Skulptur. Magische Runen zierten seine Schuppen, Überbleibsel des Zweiten Fluchs, der ihm Glück und seinen Brüdern und Schwestern Pech gebracht hatte. Die Runen waren ein weiterer Ausdruck seiner Einzigartigkeit, die ihn von jeher von seinen Gefährten unterschieden hatte.
Und von seiner Einzigartigkeit war Grimsley zutiefst überzeugt. Warum sonst war er – in Gegensatz zu all seinen Artgenossen – noch hier, wenn nicht, um sein Talent der Welt darzubieten?
Mit einem Hopser und einem Flattern seiner winzigen Flügel erhob er sich in die Luft und kreiste um die Turmspitzen der Kathedrale. Eine Schar Tauben stob erschrocken auseinander, was Grimsley mit einem herablassenden Schnauben quittierte. Dies war sein Reich, sein Publikum. Manchmal vermisste er die anderen Gargoyles, die vor langer Zeit ins Nirgendwann verbannt worden waren. Das war der Zweite Fluch gewesen. Die wenigen, die diesem Schicksal entfliehen konnten, waren kurz darauf auf ewig zu Stein erstarrt. Bis auf ihn. Manchmal sprach er mit seinen versteinerten Nachbarn, damit sie sich nicht so allein fühlten. Aber nur manchmal – sie hatten sein künstlerisches Genie ohnehin nie richtig gewürdigt.
Grimsley war sich selbst mehr als genug.
»Bewohner dieser ehrwürdigen Stadt!«, rief er mit schriller Stimme in die Morgendämmerung. »Erblicket euren Beschützer, euren Wächter, eure Muse! Ich bin Grimsley der Prächtige, letzter der Gargoyles, und der begabteste, der je dieses heilige Bauwerk zierte!«
Eine einzelne Taube gurrte gelangweilt.
Unbeeindruckt räusperte sich Grimsley und begann zu singen. Die Musik war seine größte Leidenschaft und sein größtes Talent (neben vielen weiteren). Die anderen Gargoyles hatten ihn deswegen beneidet, auch wenn sie es nie offen zugegeben hatten. Im Gegenteil, sie hatten sich über ihn lustig gemacht, nur um ihre eigenen Minderwertigkeitskomplexe damit zu kompensieren.
Aber Grimsley wusste aus Erfahrung: Wer einmal seine Stimme gehört hatte, den ließ sie nie wieder los.
Und so schmetterte er seine bombastischste Arie, sein Lieblingsstück, das er selbst komponiert und vor vielen Jahren in einer weinseligen Stunde einem befreundeten Komponisten ins Ohr gesäuselt hatte. Diesen Moment der Schwäche bereute er bis heute, denn das Werk wurde oft an der Pariser Oper aufgeführt, allerdings ohne seine Urheberschaft dabei zu würdigen. (Sogar das Phantom der Oper hatte ihm damals zu seiner Genialität gratuliert und das wollte etwas heißen! Grimsley gab sonst nicht viel auf die Meinung der Menschen, aber in dem Fall hatte er eine Ausnahme gemacht. Außerdem war nie geklärt worden, ob das Phantom tatsächlich ein Mensch gewesen war, aber das war eine andere Geschichte und zudem nicht seine eigene, darum verschwendete er keinen weiteren Gedanken daran.)
Grimsley ging ganz in seiner Kunst auf. Seine Interpretation der Arie hallte mit solcher Inbrunst von den Kirchenmauern und umgebenden Gebäuden wider, dass sogar die Steine erweichten und vor lauter Egriffenheit Staub und Mörtel auf die Straßen rieseln ließen.
Seine Stimme schwoll an und ab, der Text ein Lobgesang auf seine unvergleichliche Überlegenheit. Ganz besonders in jener Sache, die für die Gargoyles als unerreichbar galt und für die Menschen ein ewiges Mysterium blieb: die Liebe.
»Die Liebe ist ein wilder Gargoyle, den niemand jemals zähmen kann«, schmetterte Grimsley und nahm eine dramatische Pose ein. »Vergeblich lockst du ihn heran. Wenn er nicht will, dann kommt er niemals bei dir an.«
Knarrend öffnete sich unter ihm ein Fenster. Eine aufgebrachte alte Dame steckte ihren Kopf heraus.
»Himmel, Arsch und Zwirn, du verflixter Wasserspeier!«, keifte sie. »Kannst du nicht endlich Ruhe geben? Es ist Sonntag früh! Hier wollen Leute ausschlafen!«
Grimsley stockte mitten im Gesang, zutiefst beleidigt.
»Schlafen?«, empörte er sich. »Wie könnt Ihr es wagen, meine Darbietung zu unterbrechen, Ihr kulturlose Vettel! Es ist eine Ode an die Liebe in ihrer vollkommenen Form, gemeißelt in Stein, liebkost von Tönen und durch Leidenschaft in Schwingung gebracht. Dies ist Kunst, mein Meisterwerk für die Ewigkeit! Ihr solltet Euch geehrt fühlen, Zeuge sein zu dürfen!«
Die Antwort der Frau bestand aus einer Salve farbenfrohester Flüche, gefolgt von einem zukrachenden Fenster. Grimsley schnaubte entrüstet und plusterte sich auf.
»Banausen, allesamt«, murmelte er und ließ sich wieder auf seinem Platz nieder. »Aber was soll’s. Wahres Genie wird eben oft verkannt. Doch die Welt wird mein Lied hören!«
Und so setzte Grimsley der Gargoyle seine Arie fort, während sein Ego immer höher in den Morgenhimmel emporstieg und mit Verachtung auf seine versteinerten Artgenossen und die Menschen herabsah.
Tief unter ihm, im Zwielicht zwischen den Welten, meinten einige versprengte Seelen ein fernes Trällern zu hören. Aber vielleicht war das nur eine einsame Grille, deren Echo sich zu ihnen verirrt hatte.
Und so bleibt Grimsley, außer für ein paar gestresste Einwohner von Paris und natürlich sich selbst, eine unbedeutende Episode im gigantischen Gefüge des Imagiya-Universums.
Die Liebe ist ein wilder Gargoyle

Hoffentlich haben deine Ohren Grimsleys Arie gut überstanden. Man sagt Gargoyles nach, dass sie sehr eindrückliche Stimmen besitzen. (Gut nachzulesen in meinem Roman »Der Pakt von Babylon: Verbannt«, der am 5.5.2025 erscheint. Dort erfährst du auch, was es mit den zwei Flüchen auf sich hat.)
Und nun zur wichtigsten Frage: Hast du die Arie, die Grimsley schmettert, erkannt? Ich verrate nur so viel: Sie ist ein recht bekanntes Stück der französischen Operngeschichte … 😉
Lust auf Lesen? Schau dich bei meinen Büchern und Kurzgeschichten um.
Das Zwielicht wartet auf dich!