Schöpfungsmythen: Tolkiens goldener und silberner Baum Telperion und Laurelin

Vor Kurzem durfte ich einen Gastbeitrag im Newsletter meiner Autorenkollegin Lea Söhner schreiben. Ihr wöchentlicher Rundbrief »WORTE WIRKEN« zeigt, wie Sprache und Gesellschaft einander spiegeln. Worte werden vergessen, umgedeutet oder neu erfunden. 

Ihre eindringlichen Briefe sind einerseits eine Mahnung, wie leicht man mit Sprache manipulieren kann. Auf der anderen Seite zeigen sie, welche wunderbaren Schätze sich in unseren Worten verbergen. 

Darum stellt Lea in jedem Brief sieben »Unvergessliche Worte der Woche« vor, aus denen ihre Leser ihr Lieblingswort wählen dürfen.

In Worten steckt eine verborgene Kraft. Wir alle kennen das Sprichwort: »Die Feder ist mächtiger als das Schwert.« (Edward Bulwer-Lytton, 1839)

Das gilt nicht nur für gesellschaftskritische Texte, sondern auch für Phantastik.

Da Phantastik und Mythologie für mich Hand in Hand gehen, lag es nahe, für meinen Gastbeitrag die wunderbare Mythenwelt und Sprachvielfalt eines J.R.R. Tolkien aufzugreifen. Wer hat schönere Worte und Welten gewoben als er?

Es folgt mein Beitrag zu Leas Rundbrief, der am 15.11.2025 verschickt wurde.

Gastbeitrag

Fantasie der Schöpfung

Im Anfang war das Wort, verrät uns das Johannesevangelium. Im Anfang. Das Wort war der Beginn der Schöpfung, nicht umgekehrt. Worte besitzen Schöpferkraft.

Der ägyptische Gott Ptah erschuf die Welt durch Aussprechen der Namen aller Dinge. 

Im Hinduismus gilt das Om (oder Aum) als Urklang, aus dem das Universum entstand. 

Bei den Aborigines sangen die Ahnen während der Traumzeit die Welt ins Dasein. Jedes Lebewesen, jeder Berg, jeder Fluss hat seinen eigenen Gesang – die Traumpfade (englisch: Songlines).

J.R.R. Tolkien ließ die Welt durch die Musik der Ainur (Ainulindalë) entstehen. Alles war in Harmonie, bis der erste Missklang sich daruntermischte.

Tolkien, Schöpfer des Epos »Der Herr der Ringe«, gilt als Begründer der modernen Fantasy-Literatur. Der Philologe schuf mehrere Sprachen und Dialekte. Fans seiner Werke erlernen heute noch seine primären Elbensprachen Quenya und Sindarin.

Tolkiens Schöpfungsmythos wird im Silmarillion erzählt.

Silmarillion. Hat dieses Wort nicht bereits einen magischen Klang? Das Buch umfasst die Geschichte von der Erschaffung der Welt einschließlich der ersten drei Zeitalter und mündet in Tolkiens Hauptwerk »Der Herr der Ringe«. 

Tolkien erschuf zuerst die Sprachen, dann die Geschichten dazu. Seine Geschichten entstanden, um seinen Sprachen eine Welt zu geben.

Schöpfungsmythen haben sich in unser kulturelles Gedächtnis eingebrannt, egal, ob sie vor 5.000 Jahren erzählt wurden oder vor 50. Ohne Geschichten gibt es keine Geschichte.

Für die alten Kulturen war Sprache keine Beschreibung der Welt – sie war die Welt. Wort und Ding waren eins.

Im Anfang war das Wort. Aus Worten entstehen Geschichten, aus Geschichten Welten. Jede vollendete Welt wird zum Wort für eine neue. So bleibt die Schöpferkraft lebendig: durch das Erzählen, Erinnern und Weitergeben.

Namárië – auf dass die alten Worte nie verstummen.

Mairi Carlsson

(Namárië: Quenya für »Leb wohl«)

💫 Die folgenden Unvergesslichen Worte stammen aus Tolkiens Elbensprachen und stehen im Kontext seines Schöpfungsmythos.

Tolkien: 7 Unvergessliche Worte

Unvergessliche Worte

Ilúvatar: Allvater
Der eine allwissende, allmächtige und allgütige Schöpfer. Er existiert für immer in den Zeitlosen Hallen und trägt in sich die Unverlöschliche Flamme – der göttliche Funke, der Sein aus dem Nichts erschafft.

Ainulindalë: Musik der Ainur
Die Erschaffung des physischen Universums durch die Ainur (die Heiligen) – Geistwesen, die ihrerseits aus den Gedanken des Schöpfers Ilúvatar hervorgingen

Valinor: Land der Valar
Das Reich der Valar, den mächtigsten Geistwesen unter den Ainur

Telperion & Laurelin: in etwa Silberglanz und Goldenlied
Namen der beiden Bäume in Valinor, die bis zu ihrer Zerstörung das Land der Valar erhellten. Aus der letzten Blüte Telperions wurde der Mond und aus Laurelins letzter Frucht die Sonne erschaffen.

Cuiviénen: Wasser des Erwachens
Bezeichnet den Ort im Osten Mittelerdes, an dem die ersten Elben erwachten

Laurelindórenan: Tal des Singenden Goldes
Auch bekannt als Lothlórien, der Goldene Wald: eines der schönsten Elbenreiche in Mittelerde (wörtl. bedeutet Lothlórien in etwa Traumland oder Traumblume)

Namárië: Leb wohl oder Alles Gute
Abschiedsgruß mit der Bedeutung und zugleich der Name eines bedeutsamen Liedes der Elben

Ende des Gastbeitrags

🎧 Hörbeispiel: Das Hörbeispiel für die sieben Unvergesslichen Worte habe ich nachträglich aufgenommen. Ich spreche weder Sindarin noch Quenya. Aber ich habe mein Möglichstes getan, so nahe wie möglich an Tolkiens Phonologie zu bleiben.

Erkenntnis

Für mich ist und bleibt Tolkien als Schriftsteller und Schöpfer unerreicht. Bis heute stelle ich mir die Frage, woher er seine Inspiration nahm. Seine Welten und Figuren begleiten und verzaubern ganze Generationen. Entstammen seine Werke allein seiner Phantasie oder hat er einen Blick in eine andere Wirklichkeit getan? 

Das eine schließt das andere nicht aus. Schöpfungsmythen wurden nicht in ferner Vergangenheit erfunden. Was, wenn sie auf Erinnerungen beruhen? Wenn sie einen Neubeginn nach einer globalen Katastrophe erzählen? Dafür gibt es durchaus Hinweise.

Oder drücken Schöpfungsmythen innere Wahrheiten aus, die wir mit unserem materialistisch geprägten Denken nicht mehr begreifen?

Für mich ist Phantasie der Zugang zu einer anderen Welt – vielleicht nicht physisch manifestiert, aber darum nicht weniger real. In meinem Artikel über das literarische »Durchbrechen der vierten Wand« gehe ich näher darauf ein. 

Vielleicht ist es aber auch eine Frage des Bewusstseins. Ich glaube daran, dass wir schöpferische Wesen sind und unsere Wirklichkeit selbst erschaffen – auch die physische. Und mit diesen Überlegungen bin ich nicht allein.

Selbst angesehene Wissenschaftler wagen den Sprung in ein neues Weltbild: Bewusstsein ist nicht das Beiprodukt unseres physischen Gehirns, sondern die fundamentale Substanz allen Seins. In meinem Artikel 12 Pioniere der Grenzwissenschaft und wie sie unser Weltbild verändern stelle ich einige revolutionäre Theorien und ihre Vertreter vor.

Es geht mir nicht darum, »die eine Wahrheit« zu finden, sondern um die Erkenntnis, dass wir mehr sind als ein wandelnder biochemischer Computer. Sprache ist Teil unseres schöpferischen Ausdrucks. Und Mythen unsere Erinnerung daran.

Die Autorin Lea Söhner

Wer Sprache liebt, dem lege ich Leas Rundbrief »WORTE WIRKEN« ans Herz.

Ihre Bücher sind für alle, die es wagen, in menschliche Abgründe zu blicken – auch in ihre eigenen.

Lea schreibt bewegende Generationenromane, inspiriert von wahren Schicksalen. Ihr neuer Roman »Wo das Schweigen wohnt« erscheint am 19. Januar 2026 im Herodot-Verlag.

Leas Motto:

»Jedes Leben hinterlässt ein Echo für die, die bereit sind, darauf zu lauschen«

Leas Homepage: https://lea-soehner.ch/

Deine Meinung

Was ist dein Unvergessliches Wort aus Tolkiens Sprachschatz?

Und welche Bedeutung haben Mythen für dich? Erfindung, Unterhaltung, Erinnerung oder etwas ganz anderes?

Schreib es gern in die Kommentare.

Postscriptum

Abbildungen: Die verwendeten Bilder sind mit KI erstellt (Midjourney AI).

Profilfoto Mairi Carlsson - Dark Urban Fantasy Autorin

Verfasst von

Mairi Carlsson

"Glaube nicht alles! Aber glaube, dass alles möglich ist." Das ist mein Motto für alle Lebenslagen. Während meine Figuren behaupten, ich sei nur ein literarischer Geist, sammle ich mysteriöse Phänomene und Hinweise darauf, dass unsere Welt Teil von Imagiya ist. Ob ich wirklich existiere oder nur träume zu existieren? Gute Frage ...