Die Klage der Banshees

Nebelschwaden. Ein kühler Hauch. Sanftes Flüstern.

Die Seelen der Toten, die in das Reich der Banshees eintreten, fühlen sich an wie eine Liebkosung, doch sind sie Wanderer auf einer Reise mit unbekanntem Ziel.

Auch die Banshees wissen nicht, was am anderen Ende des Wegs auf die Wanderer wartet. Sie wissen nur, dass alles Sein ein Übergang ist, ein Wechsel von Zuständen, ohne Anfang, ohne Ende. Ihre Aufgabe ist es, den Weg zu ebnen und den Übergang zu erleichtern. Einst galt ihr Ruf als ein Zeichen der Hoffnung, dass aus dem Ende ein neuer Beginn erwächst. 

Doch die Menschen verlernten zuzuhören, denn sie hörten nur noch mit ihren sterblichen Ohren, anstatt mit ihrer Seele zu lauschen. Und so geriet für sie der Ruf zu einem Klagegeschrei, einem Totengeläut der Vergänglichkeit, das sie mit Furcht und Entsetzen erfüllt.

Darum erscheinen die Banshees ihnen nur noch selten und beschränken sich darauf, die Menschen nach ihrem Übergang ins Zwielicht, zu dem auch das Reich der Banshees gehört, in die jenseitige Welt weiterzuleiten. Dort können die Seelen in einen neuen Zustand eingehen oder, wer weiß, sich auf ihre Rückkehr in einer neuen Inkarnation vorbereiten.

Viele Seelen sind nach ihrem Übertritt ins Zwielicht zunächst verängstigt, verwirrt, oder auch voller Wut, weil sie die Materie als Ende des Seins betrachtet haben. Nicht alle sind bereit, weiterzuziehen und nicht immer gelingt es den Banshees, sie davon zu überzeugen. Und so verirren sich diese Seelen im Zwielicht zwischen den Welten, geleitet von ihren eigenen Ängsten und ihrer Weigerung, loszulassen und Veränderung zuzulassen.

Banshees, die sich in der 3. Sphäre zeigen, der Welt der Materie und alles Sterblichen, sind oft aus langer Tradition einem Ort, einer Landschaft oder einer Familie verbunden, wo der alte Glaube an die Anderswelt noch stark ist. Nicht selten ist es ein Fluch, gesprochen vor Jahrhunderten aus Menschenmund, der sie zu ihnen zieht. Denn was den Menschen ein Fluch, ist den Wesen der Anderswelt ein Versprechen, ein Pakt, der einst mit Blut geschlossen wurde und nicht gebrochen werden darf.

Nur wenige Sterbliche erkennen die wahre Natur einer Banshee und heißen sie willkommen als das, was sie ist. Eine Hüterin des Zwielichts und Begleiterin auf dem Weg nach drüben. Und sie begrüßen sie freudig, wenn ihre Zeit der Veränderung gekommen ist.

Und so singen die Banshees in ihrem Reich für die Seelen, die als sanfter Hauch vorüberziehen, und geleiten sie mit ihrem Lied auf den Weg in einen neuen Zustand des Seins. Ein Echo, das manchmal auch in der Welt der Sterblichen zu hören ist und sie daran erinnert soll, dass sie nicht die Krone der Schöpfung, sondern nur eine kurze, vergängliche Manifestation eines Seinszustandes sind.

Einige wenige Banshees sind der Welt der Sterblichen auf eine ganz eigene Art verbunden. Denn obwohl sie selbst machtvolle Wesen sind, sind sie weder unfehlbar, noch unvergänglich. Manche wurden einst von mächtigen Zauberern gefangen oder durch einen Bannspruch von ihrem Reich und ihren Schwestern getrennt. Andere haben sich freiwillig einer Aufgabe verschrieben, die sie an die Welt der Materie bindet.

Vielleicht, nur vielleicht offenbaren sie sich uns Sterblichen. Mit ihrem schönen und schrecklichen Lied, das durch das Endlos des Nirgendwann hallt. 

– aus Madame Mercers Grimoire

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